Heribert Mayr muss den Schwall an Emotionen erst einmal sacken lassen. Den Australian-Open-Final zwischen Jannik Sinner (22) und Daniil Medwedew (27) hat er von unterwegs im Liveticker verfolgt. Er hat gelitten, gebibbert, gehofft – und am Ende gejubelt. «Da sind unbeschreibliche Gefühle in mir hochgekommen», sagt der 68-Jährige, als Blick ihn im Südtirol erreicht.
Mayr war Sinners Jugendtrainer. Er hat den neuen Melbourne-Champion in ganz jungen Jahren vom Rohdiamanten zum nationalen Talent geformt, bis Sinner mit 13 an die ligurische Küste nach Bordighera zog, um sich dort der Schule von Star-Coach Riccardo Piatti (65) anzuschliessen.
Mayr ist «unglaublich stolz» darauf, die Basis für Sinners eindrückliche Entwicklung gelegt zu haben. Die grosse Grand-Slam-Party müsse aber noch warten. «Gefeiert wird erst, wenn er wieder mal zu Hause im Pustertal ist. Dann stossen wir gemeinsam an», sagt Mayr, der seinem berühmten Schützling via Whatsapp gratulierte.
«Er konnte nie ruhig sitzen bleiben»
Der Coach vom «Tennis Center Südtirol» übt seinen Job seit 1978 aus. Er hat schon so manchen guten Nachwuchsspieler kommen und gehen sehen. Sinner aber sticht heraus, weil das «Biabl aus Sexten» anders war als alle anderen. Schmal, schlaksig, ein wenig verspielt und gleichzeitig bemerkenswert ruhig und abgebrüht.
«Ich hätte mir damals nicht im Traum vorstellen können, dass aus ihm ein Grand-Slam-Sieger werden könnte», sagt Mayr: «Was die Koordination, die Reaktionsschnelligkeit, das Timing und das Auge betrifft, war er weiter als andere. Dafür hatte er nichts für die Athletik gemacht. Bis er mit 13 weiterzog, hatte er zwei- bis maximal dreimal pro Woche Tennis gespielt. Andere spielten zu diesem Zeitpunkt bereits täglich. Deshalb ist sein Aufstieg im Nachhinein so erstaunlich – sein Erfolg ist ihm jetzt noch höher anzurechnen.»
Mayr präzisiert: Ein zerbrechlicher Junge sei Sinner nicht gewesen. Im Gegenteil: «Er konnte nie ruhig sitzen bleiben. Zu Hause hat er versucht, mit dem Ball das Licht auszuschalten. Er spielte Fussball, fuhr sehr gut Ski, ging klettern und boldern.»
Das Bild, das Sinner bei seiner Siegesrede in Melbourne von seinen Eltern Hanspeter und Siglinde malte, bestätigt Mayr. Sinner dankte ihnen für die Freiheiten, die sie ihm liessen. Und dafür, dass sie keinen Druck auf ihn ausübten. Er sagte: «Ich wünschte, jeder könnte meine Eltern haben.» Mayr erklärt ebenfalls: «Sie haben sich nie ins Training eingemischt. Sie sagten immer: Du weisst schon, was zu machen ist.»
Sinner selbst habe er als fröhlichen Tennisschüler in Erinnerung: «Er kam immer gerne ins Training, hatte stets ein Lächeln auf den Lippen.» Diese Lockerheit könne man ihm heute noch ansehen, wenn er in den Platzinterviews wieder mal einen Spruch parat habe.
Der bodenständige Gucci-Poster-Boy
Dass Sinner mittlerweile ein Top-Star in Italien ist, in TV-Werbungen rauf und runter läuft und millionenschwere Verträge mit Marken wie Gucci, Rolex, Nike oder Lavazza unterschrieb, hat auch Mayr registriert: «Und wenn sogar die fussballlastige ‹Gazzetta dello Sport› zig Seiten über ihn schreibt, dann will das was heissen! Und trotzdem hat ihn das alles nicht verändert. Geld hin oder her – Jannik ist immer noch der Gleiche geblieben.»
Dafür gab es an anderer Stelle eine Veränderung. Der Tennissport sei im Südtirol seit Sinners Erfolge noch populärer geworden, sagt Mayr: «Wir spüren einen enormen Boom. Wir haben mehr Kinder in der Tennisschule. Und auch viele Erwachsene graben das Racket wieder heraus. Die Euphorie hier ist riesig.»
Mayr glaubt, Sinner habe das Potenzial, auch über Italien hinaus grossen Einfluss auf die Tenniswelt zu haben: «Weil er so sympathisch und nahbar ist.» Oder anders ausgedrückt: Weil er einfach der gute, alte Jannik geblieben ist.