Jannik Sinner (22) fliegen gerade jede Menge Herzen zu. «Il ragazzo con il sorriso», der Junge mit dem Lächeln, wie er von der «Gazzetta dello Sport» bezeichnet wird, lässt nicht nur sein Tennisspiel unbeschwert aussehen. Auch seine Platzinterviews sind von seiner Lockerheit geprägt – und von grösstem Unterhaltungswert. Als er zu Beginn der Australian Open nach seiner Routine zwischen den Matches gefragt wurde, meinte er: «Ich habe auch ein wenig Krafttraining gemacht – auch wenn ihr das jetzt nicht sehen könnt, weil ich so dünn bin.» Dann scherzt er: «Natürlich träume ich von einem Baywatch-Körper, aber es ist schon okay.»
Nun, dass der schlaksige 1,88 Meter grosse Südtiroler nicht als Muskelprotz daherkommt, tut seinem Erfolg keinen Abbruch. Sinner hat in Melbourne seinen beeindruckenden Aufwärtstrend fortgesetzt. Nach den Titeln im Herbst in Peking und Wien sowie dem Sieg mit Italien beim Davis Cup steht er am Sonntag erstmals in einem Grand-Slam-Final, wo er auf den Russen Daniil Medwedew (27) trifft.
Sinner, der Djokovic-Schreck
Sinner ist zum veritablen Djokovic-Schreck geworden. Drei der letzten vier Duelle mit der serbischen Weltnummer eins hat er für sich entschieden. Beim Halbfinal-Sieg in Melbourne am Freitag bewies Sinner, dass er reif genug ist, selbst gegen Top-Gegner sein Spiel durchzuziehen – und dass er imstande ist, Djokovic für seine Fehler gnadenlos zu bestrafen.
Sinners Aufstieg ist einer mit Ansage, aber keiner, der so rasend schnell wie etwa jener von Carlos Alcaraz vonstattenging. Schon im Alter von 20 Jahren stiess Sinner in die Top 10 vor, doch er benötigte für seine Entwicklung länger als der Spanier, der mit 20 schon zwei Grand-Slam-Titel in der Tasche hat und sich 2022 zur jüngsten Weltnummer eins der Geschichte machte.
Sinner, das Ski-Talent
Jannik Sinners Geschichte beginnt in den Dolomiten, als Sohn von Hanspeter und Siglinde Sinner, die im Fischleintal jahrelang die Talschlusshütte betrieben. Jannik wuchs als Bergbub auf. Natürlich fuhr er Ski – und zwar so gut, dass er als Junior italienischer Riesenslalom-Meister wurde. Er betrachtete Ski-Grössen wie Alberto Tomba (57) und Bode Miller (46) als seine Idole.
Erst mit 13 setzte er voll aufs Tennis, er zog an die ligurische Küste nach Bordighera, trainierte dort mit dem renommierten Coach Riccardo Piatti (65). Dieser formte aus ihm einen Spieler, von dem sein kommender Finalgegner Medwedew später sagen wird, dass er alles mitbringe, einst die Nummer eins der Welt zu werden.
Sinner, der Grand-Slam-Champion?
Doch so weit wird es auch dann (noch) nicht kommen, sollte Sinner im Melbourne-Final Medwedew tatsächlich schlagen. Er bleibt auf Rang vier im ATP-Ranking. Gleichwohl ist es für ihn bereits ein riesiger Erfolg, nur schon ins Endspiel eingezogen zu sein. Sinner ist der erste «Azzurro», dem dies in Australien gelang. Zudem könnte er mit dem Titel die lange italienische Durststrecke im Männer-Tennis beenden. Er wäre der erste Grand-Slam-Gewinner seit Adriano Panatta (73) 1976 in Roland Garros.
Kein Wunder, kennt die Begeisterung in seiner Heimat keine Grenzen. Sein Gesicht ziert die Titelseiten des Landes. Und seit geraumer Zeit wird er von sechs besonders kreativen Fans in Karotten-Kostümen begleitet – den «Carota Boys», die wie Sinner mittlerweile vom Kaffeeunternehmen Lavazza gesponsert werden. Und all dies nur deshalb, weil Sinner einst beim Turnier in Wien ein Rüebli als Snack verdrückte – und damit viral ging.
Die «Carota Boys» haben in der Zwischenzeit einen eigenen Instagram-Kanal und reisen Sinner fast überall hinterher. Auch nach Melbourne. Mittlerweile sind sie zwar wieder zu Hause, haben in Turin aber ein Fan-Frühstück organisiert, zu dem alle Gäste in orangen Kleidern erscheinen sollen.
Nicht vorzustellen, wie gross die Rüebli-Party wird, wenn Sinner den Titel holt. Er selbst sagt vor dem Final schlicht – und passend zum Spitznamen der «Gazzetta»: «Ich werde wieder mit einem Lächeln raus auf den Platz gehen.»