Was für ein Moment. Ich sehe ihn so klar vor mir, als sei er gestern gewesen. Wie Roger Federer und Rafael Nadal gemeinsam am Spielfeldrand auf einer Bank sitzen, während Ellie Goulding mitten auf dem Centre Court stehend ihren Hit «Still Falling for You» (ich verliebe mich immer noch in dich) ins Mikrofon haucht; sich beide die feuchten Augen reiben, die Hand des einen die Hand des anderen sucht, die Emotionen immer stärker werden, die Tränen zu kullern beginnen und endlich Rogers Körper vor lauter Emotionen durchgeschüttelt wird.
Zwölf Monate ist es her, als diese Bilder um die Welt gingen. Kein Auge blieb trocken – nicht in der ausverkauften O2 Arena in London und auch nicht bei den Millionen, die Federers letztes Match vor dem Bildschirm verfolgten.
Vielleicht war es der Tennismoment des Jahres 2022, obwohl es sportlich um nichts ging? Wer kann sich noch daran erinnern, dass Federer sein letztes Spiel verlor?
Das Sportliche rückte völlig in den Hintergrund
Dass es Jack Sock und Francis Tiafoe waren, die Federer und Nadal im Champions-Tiebreak des dritten Satzes bezwangen? Was beim Laver Cup vor und nach diesem Doppel folgte, war Staffage, schmückendes Beiwerk.
Der Rest der Welt schlug erstmals in fünf Versuchen Europa – ich musste das nachschlagen, um sicher zu sein. Der 23. September wird in die Tennisgeschichte eingehen, weil an diesem Tag eine goldene Zeit im Tennissport zu Ende ging. Nicht wegen des Resultats.
Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic haben über mehr als ein Jahrzehnt das Tennis geprägt, sich gegenseitig auf immer neue Höhen getrieben. Als Folge davon thront Novak Djokovic, der letzte gesunde und aktive der drei Superstars, immer noch über der Konkurrenz.
Drei von vier Grand-Slam-Titeln hat er in diesem Jahr gewonnen. Den letzten davon vor zwei Wochen in Flushing Meadows.
Aber das Ende einer Ära war nur ein Teil davon, weshalb dieser Moment in London unvergessen bleiben wird. In einer Zeit, wo immer wieder in Pressekonferenzen und Platzinterviews die gleichen Worte zu hören sind; in einer Zeit, wo Athleten vor allem geschult werden, das «Richtige» zu sagen und nicht, was sie denken, gibt es nur noch wenige ehrliche Momente.
Nur äusserst selten öffnen Superstars ihr Visier und zeigen, wer sie sind. Der Moment, den Federer und Nadal in London vor einem Jahr zusammen mit einem Millionenpublikum vor den Bildschirmen erleben durfte, war entwaffnend ehrlich.
Bilder sagen manchmal viel mehr als Worte. Federer und Nadal respektieren sich nicht nur als Athleten, sie mögen sich wirklich. Was wenig aufregend klingt, ist im hart umkämpften Umfeld des Profisports alles andere als die Norm.
Das Gegenteil – dass sich Superstars alles Neid sind, dass Animosität vorherrscht – ist weit verbreitet. Jimmy Connors meinte einst: «Damit ich mein bestes Tennis spielen kann, muss ich meinen Gegner hassen.»
Federer und Nadal mussten sich nicht hassen
Dies ist Jimmy fast immer gelungen, ohne sich gross anstrengen zu müssen, da bin ich mir sicher. Oder John McEnroe und Ivan Lendl, Pete Sampras und Andre Agassi, undenkbar, dass hier einer für den anderen eingeflogen wäre, um Händchen haltend den Widersacher zu verabschieden.
Diese Liste könnte beliebig weitergeführt werden und ist durchaus nicht auf den Tennissport beschränkt. Dieser Moment war so grossartig, weil er der Welt zeigte, dass es durchaus möglich ist, Rivalen zu sein, das Gleiche zu wollen, aber nicht alles zu bekommen, weil der andere auch seinen Teil beansprucht, und sich über das Duellieren näherzukommen.
Dieser Moment räsonierte weit über den Sport hinaus und schwingt bis heute nach, weil die Welt solche Momente braucht, förmlich nach ihnen lechzt.
Ich habe in diesem Jahr nichts vom Laver Cup mitbekommen. Vielleicht habe ich meine Trauerperiode noch nicht abgeschlossen. Oder wie sang Ellie Goulding, eben auch über Roger und Rafa? «I Am Still Falling for You.»