Der (noch) unerfüllte Grand-Slam-Traum der Schweizerin
Warum steht hier nicht der Name Bencic?

Belinda Bencic bringt eigentlich alles mit, um als Siegerin eines Major-Turniers auf der Trophäe eingraviert zu werden. Was ihr fehlt? Womöglich eine Prise Djokovic. Und ein wenig Rennfahrer-Gen.
Publiziert: 10.09.2023 um 10:51 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2023 um 11:08 Uhr
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Bianca Andreescu hat es 2019 sensationell – und aus dem Nichts – geschafft, dass ihr Name auf der US-Open-Trophäe verewigt wurde.
Foto: AFP
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Marco PescioReporter Sport

Es war ein Auftritt zum Vergessen. Einer, der Belinda Bencic (26) und ihre Beobachter gleichermassen schockierte. Mit dem 3:6, 3:6 im US-Open-Achtelfinal gegen die Rumänin Sorana Cirstea (33) war die Ostschweizerin gar noch gut bedient. Sie habe gefühlt keinen Ball ins Feld gespielt, resümierte sie hinterher im TV-Interview mit SRF. Bencic war um diplomatische Worte bemüht, doch in ihrem Inneren schien es zu brodeln. Dass sie selbst ihre grösste Kritikerin sei, hat sie schon oft betont. Diesmal aber blieb sie auch von Expertenschelte nicht verschont: «Ich weiss wirklich nicht, wie man derart schlecht spielen kann, wenn man so talentiert ist wie sie», sagte BBC-Kommentator David Law (50) in «The Tennis Podcast», dem millionenfach gehörten Format, bei dem er als Co-Host fungiert. Am Ende aber kamen sowohl Bencic als auch ihre Kritiker auf einen gemeinsamen Nenner: Die diesjährigen US Open waren wieder mal eine verpasste Chance.

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Denn eigentlich könnte Bencic eine der beiden Spielerinnen sein, die in der Nacht auf heute um den Sieg in New York kämpften. Eigentlich hätte sie alles, um ihren allergrössten Traum von einem Grand-Slam-Titel zu realisieren. «Die Frage ist im Grundsatz nicht ob, sondern wann sie es schafft», sagt SonntagsBlick-Tennisexperte Heinz Günthardt (64). Natürlich, der 2021 errungene Olympiasieg von Tokio ist ein Riesenerfolg in ihrem Palmarès. Doch er vermag es in der anders tickenden Tenniswelt eben nicht mit dem unbändigen Verlangen nach einem Triumph auf Grand-Slam-Level aufzunehmen.

Dass Bencic in ihrem Spiel einen Totalausfall beklagt, gibt es höchst selten. Die Partie gegen Cirstea stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar. Und doch hat sie etwas mit allen bisherigen Performances an den Australian oder French Open, in Wimbledon oder eben New York gemein: Bencic hat es nie geschafft, sich überhaupt einmal in Position zu bringen. 2019 scheiterte sie an den US Open im Halbfinal, 2014 und 2021 stand sie gleichenorts im Viertelfinal. Es sind ihre drei besten Resultate auf höchster Turnierstufe.

«Sie geht kaum Kompromisse ein»

«Manchmal musst du gewisse Partien einfach überleben», sagt Alessandro Greco (42), Leiter Spitzensport bei Swiss Tennis: «In diesen zwei Wochen passiert so viel, dass es einfach das Wichtigste ist, dass du dich irgendwie durch alle Tiefs retten kannst. Du musst fähig sein, Spiele auch mal unschön zu gewinnen.» BBC-Kommentator Law brachte denselben Punkt ins Spiel: «Ich habe mit Coco Vandeweghe (31, ehemals Weltnummer 9, Anm. d. Red.) gesprochen, und sie sagte: Hin und wieder sieht man von Bencic einen schlechten Tag, weil sie in ihrem Spiel kaum Kompromisse eingeht. Es ist einfach ihr Ding, die Bälle früh zu nehmen.»

Bencic sauer gegen Zuschauer-Zwischenruf
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Störung an US Open:Bencic sauer gegen Zuschauer-Zwischenruf

Fehlt Bencic also der Plan B? «Nein», sagt Günthardt, der im Vorjahr als Captain des Schweizer Frauenteams mit der Rechtshänderin den Billie Jean King Cup gewonnen hat. Bencic habe schon zig Male gezeigt, dass sie über einen «sensationellen Kampfgeist» verfüge und sich in Matches zurückkämpfen könne. Bei ihrem Turniersieg in Abu Dhabi etwa, im Februar. Da kehrte Bencic die Partie gegen Ljudmila Samsonowa (24) nach Satzverlust und Matchball für die Russin noch zu ihren Gunsten (1:6, 7:6, 6:4).

Doch auf Grand-Slam-Ebene? Da schaut es aus, als ob sie den Sieg so fest will, dass manchmal gar – wie gegen Cirstea – ihr Instinkt zu versagen scheint. Gegen die Rumänin reagierte Bencic, so wirkte es von aussen, panisch und mit noch schnellerem Spiel, anstatt sich kurz zurückzunehmen und sich zu sammeln. Und sie scheiterte krachend. Ihre Körpersprache sprach Bände.

Günthardt packt eine Metapher aus dem Rennsport aus: «Nehmen wir an, eine Fahrerin stellt auf einer trockenen Piste immer neue Bestzeiten auf. Dann aber kommt Nieselregen auf. Was nun? Sie muss sich den Gegebenheiten anpassen. Bremse und Gaspedal dosiert einsetzen. Gefühl ist gefragt. Wenn sie denkt, dass sie diese Kurve normalerweise mit Vollgas gefahren sei, also tue sie das weiter auch bei nassen Bedingungen, dann kommt sie ins Schleudern und fliegt von der Strecke. Oder im Fall von Belinda: aus den US Open.»

Anpassen wie Djokovic?

Günthardt betont: «Wir sprechen hier vom allerhöchsten Niveau des Welttennis. Belinda ist seit Jahren Teil der Top 20, hier entscheiden Details.» Doch es sind genau jene Nuancen, die Grand-Slam-Gewinner vom Rest unterscheiden. Was auffällt: Novak Djokovic (36) ist ein klassischer Anpasser, wenn er merkt, dass sein Spiel gerade nicht funktioniert. Was macht er? Er nimmt in Kauf, dass die Partie halt vier Stunden dauert, er steht zwei, drei Meter zurück und würgt sich langsam ins Duell zurück. Meist mit Erfolg, weil entweder der Gegner plötzlich Fehler begeht oder weil er selbst wieder stärker wird.

Wie bekommt das auch Bencic bei den Majors hin? Wie überwindet sie Druck und Unsicherheit, wenn es viermal im Jahr ernst gilt? «Das hat viel mit Selbstvertrauen zu tun. Sie muss ausstrahlen können, dass die Gegnerin schon einen verdammt guten Tag einziehen muss, um sie zu schlagen. Dass sie dies kann, zeigt sie regelmässig auf der Tour», sagt Günthardt.

Klar ist: Bencic ist inzwischen 26 und steht mit jedem Jahr mehr unter Zeitdruck. Die letzte Saison, als sie an Grand Slams nie über die dritte Runde hinauskam, habe sie «gestresst», sagte sie Anfang Jahr in Melbourne: «Ich dachte mir: Hey, ich habe keine Zeit mehr, um in den ersten Runden auszuscheiden.» Heuer stiess sie trotz zwischenzeitlicher Störfaktoren wie Verletzungen oder der unglücklichen Trennung von Coach Dmitri Tursunow immerhin dreimal in einen Achtelfinal vor. Nur an den French Open schied sie, nach Oberschenkelproblemen und ohne Vorbereitung, in Runde eins aus.

Auf die Frage, was es braucht, um ihren Traum doch noch zu verwirklichen, sagte sie nach ihrem Out in New York: «Ich muss einfach mal diesen Achtelfinal gewinnen.» Klingt einfach. Doch Greco stimmt ihr hierbei zu: «Wenn sie mal in Fahrt ist, ist sie ein Schnellzug, der kaum zu bremsen ist.»

Was kitzelt Liptak aus ihr heraus?

Angesichts dessen, wie gross die Liste der Spielerinnen ist, die in den letzten Jahren aus dem Nichts eine Major-Trophäe hochstemmen durften – und angesichts der ausgezeichneten spielerischen Anlagen von Bencic –, wirkt es wie ein schlechter Witz, dass die aktuelle Weltnummer 15 noch leer ausgegangen ist. Bitter: Bei 6 ihrer letzten 15 Grand-Slam-Teilnahmen gewann am Ende eine zuvor schlechter klassierte Spielerin.

Bencic ist mit Frust aus New York abgereist, doch sie dürfte auch jede Menge Erkenntnisse gewonnen haben. Wie sehr sie allerdings ihr neuer Trainer Matej Liptak (45) aus der Komfortzone herauslocken kann, wird sich erst noch richtig zeigen. 

In den Emotionen meinte Bencic, sie hätte schon eine Million Chancen gehabt und werde auch künftig noch eine Million Chancen bekommen. Es bleibt für sie zu hoffen, dass dem so ist. Ansonsten machen die Werdegänge anderer Spätzünderinnen Mut: Die Deutsche Angelique Kerber (35) holte 2016 an den Australian Open ihren ersten von drei Grand-Slam-Titeln im Alter von 28 Jahren. Und die Italienerin Flavia Pennetta (41) triumphierte 2015 an den US Open als 33-Jährige.

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