Es sind nur 14,5 Kilometer Luftlinie. Am einen Ende der virtuellen Strecke mitten durch London liegt der Centre Court von Wimbledon. Am anderen Ende, nördlich vom Tennis-Tempel, liegt das Wembley-Stadion, Austragungsort des Fussball-EM-Finals.
Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun? Für Italien sehr wohl! Der ganze Stiefel träumt davon, dass an den nur 14,5 km entfernten Orten gleich doppelt Sportgeschichte geschrieben wird. Hier mit Matteo Berrettini (25, ATP 9), dem ersten Italiener überhaupt im Wimbledon-Final. Dort die Kicker, seit 1964 ohne Triumph bei der Europameisterschaft. «Der italienische Sport feiert den 11. Juli als Nationalfeiertag», jubelt die Sportbibel «Gazzetta dello Sport» nach Berrettinis Halbfinal-Triumph gegen Federer-Bezwinger Hubert Hurkacz.
Vor drei Jahren holte der 1,96-Meter-Turm aus Rom in Gstaad seinen ersten Turniersieg auf der Profi-Tour. Nun winkt ihm Karriere-Einzeltitel Nummer 6. Es wäre der mit Abstand prestigeträchtigste und der erste italienische Grand-Slam-Sieg seit Adriano Panatta (70) vor 45 Jahren in Roland Garros.
«Es wird ein wunderschöner Tag»
Doch selbst wenn Berrettini die Sensation schafft, Novak Djokovic (34) davon abzuhalten, mit dem 20. Grand-Slam-Sieg zu Roger Federer und Rafael Nadal aufzuschliessen: Der Römer weiss natürlich, dass er seinen grossen Tag mit den vergötterten Fussballern teilen muss – oder teilen darf.
Berrettini zur «Gazzetta»: «Ich kann nur allen empfehlen, noch einen schönen neuen Fernseher zu kaufen, denn es wird ein wunderschöner Tag. Und ich würde zwischen meinem Spiel und dem EM-Final keine Verpflichtungen eingehen …»
Ob sich da schon einer auf einen epischen Fünfsätzer einstellt? Denn zieht Djokovic in seinem 30. Grand-Slam-Final sein diesjähriges Wimbledon-Tempo durch, wartet auf Berrettini eine Herkulesaufgabe. Die Weltnummer 1 gewann alle Spiele in drei Sätzen. Im Halbfinal gegen Denis Shapovalov muss der Serbe zwar beissen, ist dann aber doch nach 2:44 Stunden durch.
Berrettini gibt sich kämpferisch: «Ich möchte meinen ersten Grand-Slam-Final einfach geniessen. Ich habe es auch vor zwei Jahren im Achtelfinal genossen, als mir Federer eine Lektion erteilte. Diesmal hoffe ich, dass das Erlebnis noch besser ist. Ich weiss, was ich kann.»
Ein ganzes Land vor den TV-Geräten
Die Unterstützung aus der Heimat scheint ihm gewiss. Denn auch die «Gazzetta» sieht das ganze Land am Sonntag vor dem TV-Kasten versammelt: «Danke, Matteo. Am Sonntag werden wir nicht an den Strand, nicht in den Park und nicht auf einen Ausflug gehen. Um 14.30 Uhr sind wir alle da, um dich spielen zu sehen!» Dass der Stiefel am Abend beim EM-Final kollektiv mitfiebert, ist ohnehin klar.
Dass die Fussballer im Final stehen, ist nicht gerade die grösste Sensation der EM. Schon gar nicht im Land der Squadra Azzurra. Aber dass Berrettini auf dem englischen Rasen zum Tennis-Magier wird und nun Überflieger Djokovic herausfordert, hatte vor dem Wimbledon-Start kaum ein Experte so auf dem Zettel.
Doch jetzt wollen die Italiener London gleich doppelt erobern. In nur 14,5 km Distanz zueinander.