Grosshöchstetten ist nicht Wimbledon. Doch der 4000-Einwohner-Ort im Berner Mittelland hat eine Attraktion zu bieten, die nationale Strahlkraft besitzt. Und die Hoffnungen nährt, dass der Schweizer Tennissport mit dem Rücktritt von Roger Federer nicht in den Pausenmodus verfällt.
Aus Grosshöchstetten stammt Dominic Stricker, 21, der Shootingstar, der mit seiner Leichtigkeit und Verspieltheit die Fans zum Träumen bringt. Spätestens mit der Achtelfinalqualifikation an den US Open legte er Ende August ein Versprechen ein, das auch im Hinblick auf die Swiss Indoors in Basel (21. bis 29. Oktober) die Erwartungen nach oben schraubt.
Eine rasante Entwicklung
Besuch zu Hause beim Hoffnungsträger. Domi, wie ihn seine Freunde nennen, lässt sich auf der Terrasse seines Elternhauses in ein Gartensofa fallen und atmet durch: «Es geht alles ganz schön schnell», sagt er, «aber definitiv besser schnell, als wenn ich jahrelang warten müsste.»
Am nächsten Morgen wartet zunächst die Reise nach Frankreich an ein Turnier der zweitklassigen Challenger Tour. Mutter Sabine, 49, die zu 50 Prozent als kaufmännische Angestellte bei einer Krankenkasse arbeitet, schaut während des Interviewtermins immer wieder auf die Uhr: «Wir durchleben gerade eine sehr schöne, intensive Zeit. Vor allem die medialen Anfragen haben sich in einem Masse gehäuft, dass wir Dominic auch vor sich selber schützen müssen.»
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Vater Stephan, 52, bringt Wasser für alle: «Mit oder ohne?» Als Streifenbeamter der Kantonspolizei Bern ist er sich allerhand gewöhnt. Ihn macht so ein Pressetermin nicht nervös. Freundin Aline schaut später noch vorbei. Fotografieren lassen will sie sich aber nicht: «Sie ist den Umgang mit Medien nicht gewohnt – und bleibt lieber im Hintergrund», sagt Dominic.
Die Strickers funktionieren als Familienteam – wie es in seinen Anfängen auch bei Roger Federer der Fall war. Der Vater kümmert sich um Management und Medien, die Mutter um Buchhaltung und Administration, Schwester Michèle, 23, pflegt die Website. Dort ebenfalls aufgeführt ist Katze Minu Stricker – als «Happyness Coach» (ohne Mailadresse). Total umfasst das «Team DS» 14 Personen. Die meisten davon arbeiten unentgeltlich und aus Leidenschaft für die Karriere von Dominic.
Mittlerweile sind zwar schon fast alle grösseren Managementagenturen in Grosshöchstetten vorstellig geworden. Doch noch winkt Stephan Stricker ab: «Solange wir das selber stemmen können, machen wir es – nur so wissen wir, dass Spielprämien und Sponsoringeinnahmen auch wirklich bei Dominic auf dem Konto landen.»
«Es kommt sehr selten vor, dass ich verärgert bin»
Wie Dominic Stricker öffentlich auftritt, sagt viel über seinen Charakter aus. Der junge Mann strahlt eine Lockerheit aus, die im hitzigen Geschäft des Profisports rar ist. Aus seinen Augen blitzt der Schalk. Auf die Frage, weshalb er gern sein eigener Freund sein möchte, sagte er jüngst in einem Zeitungsinterview: «Weil ich immer locker drauf bin. Ich habe stets einen Spruch auf den Lippen. Und es kommt sehr selten vor, dass ich verärgert bin.» Mit dieser Unbeschwertheit feierte er auch seinen bisher grössten Sieg – an den US Open gegen den griechischen Top-Ten-Spieler Stefanos Tsitsipas. Beim letzten Seitenwechsel, wenn sich andere Spieler unter ihrem Handtuch vergraben oder apathisch die Trinkflaschen ordnen, sang Stricker fröhlich zur Stadionmusik mit: «I Wanna Dance with Somebody» von Whitney Houston. Dann ging er auf den Platz und tanzte die Nummer 7 der Welt sprichwörtlich aus. «Ich mag Oldies und höre oft solche Musik», sagt er auf den Hinweis, dass er bei Veröffentlichung des Songs 1987 wohl noch nicht mal in den Gedanken seiner Eltern existiert hatte.
Als Sänger ist Stricker zumindest textsicher. Als Tennisspieler besitzt er die Veranlagung, weit nach vorne zu kommen. Doch mittlerweile bewegt er sich auf einem Niveau, auf dem die Luft dünn wird – und jeder weitere Schritt nach vorne einem Kraftakt gleichkommt. Sein Ballgefühl, das ihn auch auf dem Golfplatz zu einem geschmeidigen Akteur macht (Handicap 6,7), ist eine wichtige Grundlage. Doch nun entscheiden auch Faktoren wie Physis, mentale Verfassung oder Ernährung. «Hamburger habe ich vorderhand vom Speiseplan gestrichen», sagt er lachend. Und er will noch konsequenter an seiner Fitness arbeiten. So haben die Strickers im Untergeschoss ihres Einfamilienhauses einen Kraftraum eingerichtet. Dort steht auch ein Gerät, an dem Rackets bespannt werden. Vater Stephan teilt sich diese Aufgabe mit Markus Leuenberger, einem weiteren Teammitglied, und nimmt sich dieser Sache an: «Das musste ich zuerst lernen. Pro Woche fallen sechs bis sieben Schläger an.»
Bereits «Preisgeldmillionär»
Als Nummer 90 der Welt hat Dominic Stricker eine wirtschaftliche Basis erreicht, auf der sich aufbauen lässt. Die Website der Profitour ATP führt ihn bereits als Preisgeldmillionär. Doch zur Alimentierung seines 14-köpfigen Teams reicht dies längst nicht. Landläufig herrscht die Meinung, jeder Tennisprofi stehe im permanenten Geldregen. Doch Vater Stephan relativiert: «Ein Top-100-Spieler kann sich selber finanzieren, in den Top 50 kann man auch Trainer und Physio bezahlen. Aber erst in den Top 20 kommt so viel Geld rein, dass man etwas auf die Seite legen kann.» Als Beispiel für die finanzielle Realität nennt er die US Open, wo Dominic 280'000 Dollar Preisgeld verdiente – so viel wie noch nie zuvor: «90'000 Dollar davon sieht man wegen der Quellensteuer gar nie. Dann kommen die Auslagen für Trainer, Physiotherapeut und Statistiker – und zusätzlich die Spesen für Flüge, Hotel und Essen. Am Schluss bleiben zwischen 30'000 und 40'000 Dollar – aber da sind unsere Löhne noch nicht drin.»
Das verbliebene Geld wird gleich wieder in die Karriere von Dominic investiert. Deshalb wird das «Projekt Dominic» vor allem von Sponsoren und Partnern getragen. Der Vater: «Wir haben viele kleine Geldgeber, die Dominic seit Jahren unterstützen. Dafür sind wir extrem dankbar.» Auf seiner Homepage www.dominicstricker.ch betreibt das Team einen eigenen Shop mit Produkten des Labels DS, hergestellt von der Schweizer Textilfirma Isa.
Erwartungen als Wertschätzung
Es ist aber ohnehin nicht der finanzielle Reiz, der Dominic Stricker antreibt – es ist der Traum vom Platz in der Beletage des Tennissports, der sich seit dem Erfolg an den French Open der Junioren vor drei Jahren erstmals konkretisierte – und der nun zum Greifen nah scheint. Dass die Erfolgsmeldungen den Druck erhöhen, akzeptiert er selbstbewusst: «Das ist auch eine Art Wertschätzung. Nur wenn man etwas erreicht, steigen die Erwartungen.»
Die Schattenseiten des Ruhms kenne er bisher nicht: «Ich werde in der Stadt gelegentlich erkannt – und es sind auch schon Kinder vorbeigekommen und fragten nach einem Autogramm. Aber das macht mir Freude.» Diese Freude will er kommende Woche auch in Basel ausleben, wo er als «Posterboy» sozusagen die Lücken füllen muss, die ein gewisser Roger Federer hinterlassen hat. Darauf angesprochen, blinzelt Dominic Stricker in die Sonne und sagt lächelnd: «Ich gehe nach Basel und will Spass haben. Ich nehme Spiel für Spiel.» Es ist ein Satz, den man schon von vielen Sportlern gehört hat. Aber Dominic Stricker nimmt man ihn ab – diesem jungen Mann aus Grosshöchstetten, der auf gutem Weg ist, den Rahmen der bernischen Beschaulichkeit zu sprengen.