Stan Wawrinka (39) scheut sich zwar nie, seine Meinung kundzutun, doch er ist nicht gerade bekannt für emotionale Gefühlsausbrüche bei Presseterminen. Diesmal aber steht ihm der Frust ins Gesicht geschrieben – und seine markigen Worte lassen aufhorchen. «Das war nichts, das war nichts, das war nichts!», sagt er im SRF-Interview nach seinem bitteren US-Open-Out gegen die Weltnummer 101 Mattia Bellucci (23). Mit seinem Aus in New York ist auch die letzte Schweizer Hoffnung auf einen eidgenössischen Erfolgslauf in Flushing Meadows gestorben. Und es ist der Schlusspunkt eines ernüchternden Grand-Slam-Jahres für Swiss Tennis. Wawrinka steht sinnbildlich für die aktuelle Baisse. Heuer ist er an den vier Jahres-Highlights nie über die zweite Runde hinausgekommen. Das beste Resultat 2024 liefert Viktorija Golubic (31) mit ihrem Drittrundeneinzug an den Australian Open im Januar.
Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt: Erstmals seit 1986 hat es keine Schweizerin oder kein Schweizer auf Grand-Slam-Ebene in einen Achtelfinal geschafft. Nach 38 erfolgreichen Jahren, in denen sich der hiesige Tennis-Fan in verschiedenen Ären am Besten vom Besten erfreuen durfte, ist der Sport – zumindest resultatmässig – an einem neuen Tiefpunkt angelangt. Doch das hat seine Gründe.
Als hätte sie es schon vor Monaten geahnt, sagte Golubic im Mai zu Blick: «Man darf nicht vergessen, dass wir mit Roger Federer (43) und Stan Wawrinka jahrelang verwöhnt wurden. Manchmal muss man deshalb auch sagen: ‹Hey, es ist völlig okay so, wie es ist.› Wir sind ein kleines Land. Warum kehren wir es nicht um und schätzen einfach, was wir erleben durften? Das war ein Privileg.»
Hoffnungs-Trio von Verletzungen ausgebremst
Nun, Golubics Liste liesse sich gar noch locker verlängern: Mit der früheren Weltnummer eins Martina Hingis (43) etwa oder Olympiasieger Marc Rosset (53), um nur zwei zu nennen. Das Schweizer Tennis jubelte über lange Zeit über eine ganze Reihe an Ausnahmetalenten – mit dem 20-fachen Grand-Slam-Sieger Federer als herausragender Spieler. Auch Belinda Bencic (27) gehört in diesen Zirkel der mit unglaublich viel Talent Gesegneten. Doch die Olympiasiegerin aus der Ostschweiz befindet sich aktuell in Babypause und ist durch ihre Absenz einer der Faktoren, weshalb die Bilanz von 2024 so schlecht ausfällt.
Ihr Schwangerschaft ist in eine Phase gefallen, in der sich das Schweizer Tennis nach dem Federer-Rücktritt von 2022 ohnehin in einer Umbruchphase befand. Wawrinka kämpft mit zunehmendem Alter darum, überhaupt konkurrenzfähig zu bleiben. Und die aufstrebenden Youngsters bezahlen derzeit viel Lehrgeld. Dominic Stricker (22) etwa, im Vorjahr sensationell Achtelfinalist an den US Open, fiel in diesem Jahr bis Juni verletzt aus. An den US Open hat er bei seiner Startniederlage deutlich gezeigt, dass er noch lange nicht bei alter Stärke ist. Leandro Riedi (22), immerhin schon zweifacher Challenger-Sieger in diesem Jahr, kämpft immer wieder mit seinem Körper, scheint aber kurz vor dem Durchbruch auf höchster Ebene zu stehen. Den Beweis, es auch schaffen zu können, ist er aber noch schuldig geblieben. Und Jérôme Kym (21) ist der dritte der grossen, kurzfristigen Männer-Hoffnungen, denen von Alessandro Greco, Leiter Spitzensport bei Swiss Tennis, sowie Blick-Experte Heinz Günthardt «Potenzial für die Top 50» zugeschrieben wird.
Das Problem des Trios: Alle wurden in ihrem Aufstieg von Verletzungen arg ausgebremst. «Und das verkraftet eine Tennis-Nation wie die Schweiz halt lange nicht so einfach, wie beispielsweise Frankreich, das nicht wie wir über drei, sondern ein Dutzend solcher Spieler verfügt», so Günthardt, der Swiss Tennis seit Jahren berät und zudem Billie-Jean-King-Cup-Captain ist.
Mehr zu den US Open
Bei den Frauen ist Golubic aktuell die einzige Top-100-Spielerin. Céline Naef (19) gilt als das grösste Zukunftsversprechen, konnte ihr Grand-Slam-Debüt vom Vorjahr bislang aber nicht mit ähnlichen Leistungen bestätigen. Immerhin: Im Bereich der ersten rund 300 der Welt ist die Schweiz verhältnismässig breit aufgestellt. «So gut wie noch nie», sagt Greco, der sich der paradoxen Situation aber bewusst ist, dass die Wahrnehmung der Öffentlichkeit aufgrund der ausbleibenden Resultate genau das Gegenteil ist.
«Das tut richtig weh»
Denn fest steht: Nur, wer in den Top 100 ist, oder zumindest in der Nähe, bekommt die nötige Aufmerksamkeit von Sponsoren, Medien und Fans. Günthardt: «Umso bitterer ist die Tatsache, dass mit Stricker (aus den Top 300) und Wawrinka (aus den Top 200) jetzt zwei Spieler brutal abstürzen. Das tut richtig weh – denn die Top 100 sind wie für die Fussballer die Champions League. Hier gibts das Einkommen, das einem die nötige Ruhe und Planungssicherheit übers Jahr gibt. Das ist kein Vergleich zu den Challenger-Turnieren, bei denen du für den Sieg einen Bruchteil davon erhältst, was du alleine für die erste Runde an einem Grand Slam bekommst.» Die US Open schütten schon für eine Erstrundenpleite 100'000 Dollar aus.
Günthardt stellt nicht in Abrede, dass im Schweizer Tennis derzeit «der Wurm drin» ist. Doch er gibt Greco auch recht, dass mit dem Trio Stricker/Riedi/Kym Spieler nachkommen, «die wirklich gut sind». Er sagt: «Wir brauchen Geduld, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen. Ich bin auch optimistisch, dass Bencic nach ihrem geplanten Comeback zu alter Stärke zurückfindet. Und wir müssen uns bewusst sein, dass das allgemeine Bild, das wir in der Schweiz vom Tennis haben, verzerrt ist. Federer und Co. haben uns glauben lassen, dass es einfach ist, in die Top 100 vorzustossen. Das ist es nullkommanull!»
Übrigens: Das schwächste Grand-Slam-Jahr seit 1986 hätte sich aus Schweizer Sicht vermeiden lassen, wenn nach Rebeka Masarova (25, WTA 103, nach Spanien) im Jahr 2018 nicht auch noch eine zweite Spielerin abgesprungen wäre. Lulu Sun (23, WTA 41) hatte sich nach den Australian Open entschieden, künftig für Neuseeland zu starten. Sie hätte die Jahresbilanz mit ihrem sensationellen Wimbledon-Viertelfinal im Juli gerettet.
Anders als im Startspiel leistet sich der Deutsche Alexander Zverev in der zweiten Runde keinen Satzverlust. Der Weltranglisten-Vierte bezwingt den französischen Aussenseiter Alexandre Muller in knapp zweieinhalb Stunden 6:4, 7:6 (7:5), 6:1. Nächster Gegner von Zverev ist der Argentinier Tomas Martin Etcheverry (ATP 33), der seinen Landsmann Francisco Cerundolo in fünf Sätzen niederringt. (SDA)
Anders als im Startspiel leistet sich der Deutsche Alexander Zverev in der zweiten Runde keinen Satzverlust. Der Weltranglisten-Vierte bezwingt den französischen Aussenseiter Alexandre Muller in knapp zweieinhalb Stunden 6:4, 7:6 (7:5), 6:1. Nächster Gegner von Zverev ist der Argentinier Tomas Martin Etcheverry (ATP 33), der seinen Landsmann Francisco Cerundolo in fünf Sätzen niederringt. (SDA)