Der Fall ist unfassbar. Es ist der 2. November, als Tennisspielerin Peng Shuai (35) auspackt. Auf Weibo, einer Art chinesischem Twitter, beschreibt sie, wie sie vom früheren Regierungs-Vize Zhang Gaoli (75) zum Sex gezwungen worden sein soll.
Der Post ist gerade mal 20 Minuten online, danach ist er verschwunden. Und mit ihm Peng Shuai. Die zweifache Grand-Slam-Siegerin im Doppel ist seither wie vom Erdboden verschluckt. Weltweit steigt die Sorge um die 35-Jährige. Wie geht es ihr? Was ist mit ihr passiert? Wie kann ein Mensch einfach verschwinden? «Das ist in China nicht unüblich», sagt China-Experte Ralph Weber (47), Professor am Europainstitut der Universität Basel. «Das ist eines der Werkzeuge, das der Parteistaat zur Verfügung hat. Man kann Leute legal verschwinden lassen. ‹Man wird verschwunden›, heisst das dann.»
Ralph Weber: «Die Regierung zeigt der Bevölkerung, wo die Grenzen sind»
Das widerfährt Systemkritikern, Menschenrechtsanwälten, Falun-Gong-Praktikern. Und es ist nun offenbar auch mit Peng Shuai passiert. «Ein Parteioberer, der der Vergewaltigung bezichtigt wird, das ist innenpolitisch brandheiss», so Weber. «Die Partei sieht sich auch als moralisches Vorbild, das kann man nicht zulassen.»
Er geht davon aus, dass Peng unter «Überwachung an einem dafür vorgesehenen Ort» steht. Eine Art Gefangenschaft ohne Zugang zu einem Anwalt und ohne, dass die Verwandten über den Aufenthaltsort informiert werden. «Die meisten Leute werden da drin gebrochen. Meist geht es darum, dass jemand, der sich gegen das System gestellt hat, zugibt, dass er falsch lag. Oft mit einem TV-Statement, mit dem die Regierung der Bevölkerung zeigt, wo die Grenzen sind.»
Gefoltert werde Peng kaum, glaubt Weber, auch wenn das schwer abzuschätzen ist. «Sie ist als prominente Sportlerin sicherlich ein eher ungewöhnlicher Fall. Es kann gut sein, dass sie plötzlich wieder auftaucht, ihren Rücktritt verkündet und fortan etwas anderes macht.» Ähnlich, wie es bei «Alibaba»-Milliardär Jack Ma nach dessen dreimonatigem Verschwinden der Fall war.
WTA-Boss Simon lässt sich nicht täuschen
Doch noch scheint sie nicht gebrochen zu sein. Ein Statement, das das chinesische Staatsfernsehen diese Woche in ihrem Namen veröffentlicht hat und in dem behauptet wird, ihre Anschuldigungen seien «nicht wahr», sie ruhe sich zuhause aus «und alles ist gut», ist offensichtlich gefälscht.
Sämtliche Kontaktversuche der WTA mit Peng Shuai sind seither gescheitert. WTA-CEO Steve Simon droht, China Turniere zu entziehen. Das ist nicht ohne: Hunderte Millionen droht die WTA damit zu verlieren. «Wir sind definitiv bereit dazu und würden alle Komplikationen, die das mit sich bringt, regeln», so Simon bei «CNN».
Zudem sagt Simon in einem WTA-Statement: «Ich bin erfreut, Peng Shuai in Videos zu sehen, die von chinesischen Staatsmedien verbreitet wurden. Aber es bleibt unklar, ob sie frei ist und frei entscheiden kann, was sie machen will. Ich bleibe besorgt um ihre Gesundheit und dass die Vorwürfe von sexuelle Belästigung zensuriert und unter den Teppich gekehrt wurden. Unsere Beziehung zu China steht an einem Scheideweg.»
Federer meldet sich zu Wort
Eine erstaunliche Ansage, steht manch eine Sportorganisation in diesen Tagen doch nicht unbedingt im Ruf, sich für die Moral und gegen Einnahmen in Millionenhöhe zu engagieren. Doch die WTA traut sich und scheint einen Nerv zu treffen – auch bei vielen Tennisstars: Von Serena Williams über Novak Djokovic, Stan Wawrinka und Andy Murray bis zu den Legenden Martina Navratilova und Chris Evert haben sich viele mit Peng solidarisiert.
Am Samstag gibt es dann auch Statement von Roger Federer, der in einem TV-Interview mit Italiens Sender Sky sagt: «Ich hoffe, dass sie in Sicherheit ist. Wir stehen geschlossen hinter ihr. Die Tennis-Tour ist meine zweite Familie, ich bin seit 20, 25 Jahren auf der Tour. Deshalb bin ich mit jedem ATP-Spieler und jeder WTA-Spielerin verbunden.»
Und die Chinesen? Die scheinen sich nicht beirren zu lassen. «Man nimmt den aussenpolitischen PR-Schaden in Kauf. Vor den Olympischen Spielen im Februar in Peking ist das ja eigentlich ein Desaster», sagt Weber.
Um die Verwirrung noch grösser zu machen, sind jetzt auf Twitter von einem als «staatlich gebundenen Medium» gekennzeichneten Konto «shen_shiwei» Bilder der 35-Jährigen zu sehen, welche sie in unterschiedlichen Posen demonstrativ zufrieden zeigen. Auf einem Foto hat Peng vor einer chinesischen Nationalflagge lächelnd und von Plüschtieren und einem Pokal umgeben eine Katze im Arm. Auf einem weiteren posiert Peng vor einer Abbildung der Winnie-Pooh-Bärenfigur.
Angeblich soll eine Rückkehr der Spielerin in die Öffentlichkeit bevorstehen. «Sie wird bald öffentlich auftreten», schrieb Kolumnist Hu Xijin von der Parteizeitung Global Times bei Twitter, «und an einigen Aktivitäten teilnehmen.»