An die Abfahrt in Kvitfjell hat Marco Odermatt (27) keine besonders guten Erinnerungen. Fünfmal ist der beste Skirennfahrer der Gegenwart bis dato in der Königsdisziplin auf dem Olympiabakken in Norwegen gestartet, fünfmal ist er am Podest vorbeigefahren. Nach einem Ausfall 2019 schaffte es der begnadete Techniker im Jahr darauf auf der von vielen Gleitkurven geprägten Strecke nicht über Platz 25 hinaus. Bei der Doppel-Abfahrt 2022 belegte Odermatt die Ränge 15 und 13, im Vorjahr klassierte sich der dreifache Gesamtweltcupsieger auf der Olympia-Abfahrt von 1994 auf dem siebten Platz. Deshalb dürfte sich die Freude bei Odermatt in Grenzen gehalten haben, als die in Garmisch-Partenkirchen abgesagte Abfahrt nach Kvitfjell verlegt wurde. In der Region Lillehammer stehen am Freitag und Samstag nun einmal mehr zwei Abfahrten auf dem Programm, bei denen der Kampf um die kleine Kristallkugel im Mittelpunkt steht.
Der neue Weltmeister Franjo von Allmen (23) dagegen feierte 2024 seine Kvitfjell-Premiere im Weltcup – und das in überzeugender Manier: Mit Startnummer 28 raste der Berner Oberländer auf den fünften Rang.
Wie entwickelt sich die Piste?
Odermatt liegt in der Abfahrtswertung drei Rennen vor dem Saisonende 73 Punkte vor von Allmen und 185 Zähler vor dem Freiburger Alexis Monney (25). Kann der Nidwaldner diesen Vorsprung im Kampf gegen seine superschnellen Teamkollegen verwalten? «Es gibt auf dieser Piste auch heuer keine Passage, wo Odermatt mit seiner genialen Technik den Unterschied ausmachen kann. Deshalb ist von Allmen auf diesem Gelände mit seinen überragenden Gleiterfähigkeiten zumindest auf dem Papier im Vorteil», sagt Österreichs Ski-Experte Nummer 1 Hans Knauss (54). Im selben Atemzug erinnert der Kitzbühel-Sieger von 1999 daran, «dass Odermatt kurz vor Weihnachten die Abfahrt in Val Gardena gewonnen hat. Und die Saslong weist genauso viele Gleitabschnitte auf wie der Olympiabakken in Kvitfjell.»
Für Olympiasieger Beat Feuz (38) ist entscheidend, wie sich die Piste in den beiden Rennen entwickeln wird. «Je ruhiger die Strecke ist, umso schwieriger wird es für Odermatt», glaubt der Emmentaler. «Franjo von Allmen legt derzeit von allen Athleten den höchsten Grundspeed an den Tag. Und je weniger Schläge eine Piste aufweist, desto länger kann er seine enorme Grundgeschwindigkeit halten. Aber sobald es ruppiger wird, sehe ich Odermatt im Vorteil.»
Zu schaffen machen könnte der Piste auch das Wetter. Selbst im hohen Norden hat der Frühling längst Einzug gehalten. Tagsüber klettert das Thermometer aktuell bis in den zweistelligen Bereich.
Und was ist mit Monney?
Die letzte Abfahrt in Kvitfjell gewann der Zürcher Niels Hintermann (29), der in diesem Winter aufgrund der im Oktober diagnostizierten Lymphdrüsenkrebs-Erkrankung keine Rennen bestreiten wird. In der Zwischenzeit hat der 100-Kilo-Mann seine Chemotherapie und Bestrahlungstherapie erfolgreich abgeschlossen und arbeitet an seinem Comeback.
Am Mittwoch war Hintermann zu Gast im «Après-Ski»-Podcast von Blick, wo er eine bemerkenswerte Prognose für die Abfahrten im hohen Norden abgab: «Ich bin zwar überzeugt, dass Odermatt an diesem Wochenende sein bislang bestes Kvitfjell-Resultat erzielen wird. Allerdings glaube ich, dass von Allmen noch ein wenig stärker sein wird. Höher als Franjo stufe ich auf dieser Abfahrt jedoch Alexis Monney ein. Er verkörpert wirklich alle Qualitäten, um hier richtig schnell zu sein.»
Hintermann glaubt zudem, dass die endgültige Entscheidung im Kampf um die Abfahrts-Kugel erst beim Weltcup-Finale in Sun Valley fallen wird. «Ich habe gehört, dass die neue Abfahrtspiste in den USA technisch enorm anspruchsvoll ist, was im Endeffekt für Odermatt sprechen würde.»
Bereits jetzt sicher hat Odermatt die kleine Super-G-Kugel nach dem Trainingssturz des Italieners Mattia Casse. Und die grosse Kristallkugel für den vierten Triumph im Gesamtweltcup dürfte sich der vierfache Schweizer Sportler des Jahres bereits an diesem Wochenende sichern. Dem Ausnahmeathleten mit 45 Weltcup-Einzelsiegen genügt ein sechster Rang, um den Norweger Henrik Kristoffersen in der sportlich wertvollsten Wertung ultimativ zu distanzieren.