Sie sind nicht nur Vorsteher des FIS-Alpin-Komitees, sondern auch Schweizer und Fan. Wie sehr leide Sie mit, nachdem die Abfahrten abgesagt wurden?
Bernhard Russi: Selbstverständlich bin ich Fan, aber ich bin auch Realist. Und gewisse Sachen kann man nicht durchzwängen. Der Skisport ist kein Hallensport, er findet draussen statt. Und ich glaube, dass bevor es ein halbpatziges Rennen gibt, man vernünftig die Situation analysieren und dann entscheiden muss. Egal, wer gerade davon profitiert oder eben nicht. Das ist die neutrale Aufgabe der Jury. Klar, ich als Fan hätte das gerne gesehen: Strahlend schönes Wetter, knackige Rennen und den ersten Abfahrtssieg von Marco Odermatt. Auch wenn das jetzt nur eine Hypothese ist.
Wieso streicht man dann nicht den Team-Event zu Gunsten der Abfahrt?
Es ist ja nicht das erste Mal, dass dieses Thema auf dem Tisch ist, das gabs schon oft in der Vergangenheit. Zum Beispiel, wenn man in Wengen sagt: Warum nicht die Abfahrt auf den Sonntag legen und den Slalom fallen lassen? Im Skisport gibts verschiedene Kategorien und verschiedene Events. Und man hat einen Plan. Es ist die Frage, wie sehr man daran festhält und wie beweglich man bleibt. Während der Saison sind wir immer ziemlich beweglich. Aber man kann die Saison nicht verlängern, sonst hätte man ja bis nächsten Donnerstag schieben könnten. Es braucht einen Entscheid. Und wenn man andere Disziplinen fallen lässt, ist es nicht fair für die Athleten, die sich darauf vorbereiten.
Aber der Gesamtweltcup hat schon deutlich mehr Gewicht als der Team-Event.
Zu hundert Prozent, ja. Aber wenn man nur fragt, wie viele an einer Disziplin hängen, kommt man so nirgends hin. Dann kann man auch sagen, warum streichen wir nicht den Slalom und legen die Abfahrt auf den Sonntag? Das wäre dann das gleiche Thema. Man darf nicht zu viel hadern. Es ist so, es gibt einen Plan. Und was auch wichtig ist: Es wurde im Vorfeld klar so entschieden.
Der Andermatter Bernhard Russi (72) debütierte am 4. Januar 1967 im Ski-Weltcup. Er gewann neun Weltcup-Abfahrten und einen Riesenslalom, wurde 1970 Abfahrts-Weltmeister in Gröden (I), gewann 1972 Olympia-Gold in Sapporo (Japan) und 1976 Olympia-Silber in Innsbruck (A). Nach dem Rücktritt im Januar 1978 blieb Russi mit dem Skisport als Pistenbauer, TV-Co-Kommentator und technischer Berater verbunden. Ausserdem ist er Vorsteher des FIS-Alpin-Komitees und Blick-Experte.
Der Andermatter Bernhard Russi (72) debütierte am 4. Januar 1967 im Ski-Weltcup. Er gewann neun Weltcup-Abfahrten und einen Riesenslalom, wurde 1970 Abfahrts-Weltmeister in Gröden (I), gewann 1972 Olympia-Gold in Sapporo (Japan) und 1976 Olympia-Silber in Innsbruck (A). Nach dem Rücktritt im Januar 1978 blieb Russi mit dem Skisport als Pistenbauer, TV-Co-Kommentator und technischer Berater verbunden. Ausserdem ist er Vorsteher des FIS-Alpin-Komitees und Blick-Experte.
Kann Odermatt die grosse Kugel auch ohne Abfahrt gewinnen?
Ja, ganz klar.
Sie raten ihm ja, dafür den Slalom zu fahren, und er meine, das bringe ihm nichts.
Es kommt drauf an, wie die Situation aussieht. Ich erinnere gerne daran, dass Svindal 2009 vor dem Slalom mit zwei Punkten vor Benni Raich führte. Er ging mit 40 Grad Fieber an den Start, auch wenn er wusste, dass er nicht in die Top 15 fahren wird. Aber man muss präsent sein, man muss da sein. Es sind etwas mehr als 25 Fahrer am Start. Wenns einen komplizierten Slalom gibt, ist man schnell bei 15. Und ich nehme es Marco auch nicht ab, dass er so ein schlechter Slalomfahrer sein soll. Das ist er nicht. So stark kann man das Können nicht verlernen. Und ich mache jede Wette, dass er am Start stehen wird, wenn es eng wird.
Auch unabhängig vom Slalom: Mit zwei Siegen im Super-G und Riesenslalom kann Odermatt 200 Punkte holen. Pinturault müsste dann in drei Disziplinen 169 Zählen holen. Ist ihm das derzeit zuzutrauen?
Man sagt oft im Sport, dass man nur so gut ist wie der Gegner. Und Marcos Gegner war bärenstark. Aber wenn man Pinturaults Karriere anschaut, sind da immer diese zweiten, dritten, vierten, fünften Plätze im Gesamtweltcup. Bei den Grossanlässen war er oft vorne nach dem ersten Lauf und er hätte es nur noch heimfahren müssen. Und das ist ihm – von den Kombis abgesehen – eigentlich nie gelungen. In der Theorie wäre er der grosse Favorit. Aber dieser ganz grosse Coup, der ihm eigentlich zustehen würde, ist ihm nie gelungen. Anscheinend, das hat er jetzt gerade zweimal bewiesen, hält er in gewissen Momenten dem Druck nicht stand. Ich glaube darum viel eher, dass Marco Odermatt diese 200 Punkte machen kann, als dass Pinturault 169 Zähler erreicht.