Es sind kleine Gesten, doch sie sagen viel aus. Lara Gut-Behrami (31) umarmt Jasmine Flury (29) in Méribel und meint: «Sie musste oft unten durch und hat sich den WM-Titel verdient.» In Crans-Montana verpatzt die junge Delia Durrer (20) ihre Abfahrt und wird von Joana Hählen (31) lange getröstet. Beim gleichen Rennen rast Stephanie Jenal (24) auf Rang 19 und damit zum besten Abfahrtsresultat ihrer Karriere – Michelle Gisin (29) unterbricht ihr Interview und streckt die Arme in den Himmel.
Alles normal? Heutzutage schon. Es ist aber noch nicht lange her, da war die Situation im Ski-Team der Frauen ganz anders. Genauer: vor zehn Jahren. Damals war die Schweiz nicht wie heute die Nation Nummer 1, sondern die Nummer 6 im Nationenweltcup und hatte mit 3279 Punkte nicht mal ein Drittel der Ausbeute Österreichs (10'903 Punkte). Entsprechend angespannt war die Situation im Frauen-Team, als Hählen im November 2013 ihr Debüt im Weltcup gab.
«Es gab viel Unruhe und ein grosses Ellbögeln. Die älteren Fahrerinnen gaben den Tarif durch. Das kann man nicht mit heute vergleichen», so Hählen. Sie habe zwar gute Freundinnen wie Tina Weirather, Nadja Kamer und Fränzi Aufdenblatten gehabt, betont die Bernerin. «Aber ich wurde von anderen, älteren Fahrerinnen auch unfair behandelt.» Die Namen will Hählen nicht nennen.
Hählen: «Was soll das bringen?»
Das Problem war breit gefächert und betraf innerhalb des Schweizer Teams nicht nur Hählen. «Im Bus war klar, dass ich als junge Athletin hinten sitze. Oder dass ich beim Training als Letzte auf den Schneetöff gehe. Das hatte für mich aber auch mit Respekt gegenüber den arrivierten Athletinnen zu tun», erinnert sich Abfahrtsweltmeisterin Jasmine Flury (29).
Sie habe auch mitbekommen, wie man mit Hählen umgegangen sei. «Dies ging anderen auch so. Es war ganz anders als heute, wo die Hierarchien flacher sind und man sehr sozial mit allen umgeht. Es hätte mir geholfen, wenn es schon damals so gewesen wäre. Ich fühlte mich zwischendurch auch etwas verloren.»
Hählen spricht nicht von Mobbing – das habe sie nicht erlebt. Es seien subtilere Gesten und Worte gewesen, Nadelstiche halt. Zum Beispiel habe man ihr gesagt: «Gell, diese Piste liegt dir nicht? Hier bist du nicht so schnell.» Es sei das Gegenteil dessen gewesen, was sie sich erhofft hätte. «Was soll das bringen? Ich behandle Teamkolleginnen so, wie auch ich behandelt werden möchte. In den Speed-Disziplinen, wo Erfahrung sehr wichtig ist, finde ich es wichtig, dass Tipps ausgetauscht werden.»
Holdener: «Fühlte mich oft alleine»
Eine der besten Freundinnen Hählens ist Wendy Holdener (29). «Als ich 2010 in den Weltcup kam, musste auch ich unten durch. Ich war 16 und das ältere Slalom-Team stand damals sehr unter Druck. Ich kam frisch dazu und hatte sofort gute Resultate. Das war für sie schwierig», so Holdener. Gleichzeitig sei es ihr schwergefallen, dass ihr Umfeld aus dem Nachwuchs von einem Tag auf den anderen nicht mehr da gewesen sei. «Plötzlich ist man mit ganz anderen Menschen monatelang unterwegs und die Familie ist nicht mehr da. Damals fühlte ich mich oft allein.»
Anders war die Situation bei Gisin, die zwei Jahre nach Holdener bei den «Grossen» Fuss fasste. «Wendy und Denise Feierabend waren die Teamleaderinnen im Slalom, ich kam dazu. Wir waren hauptsächlich zu dritt unterwegs und hatten es immer gut. Mir war und ist es ein Anliegen, dass sich die jungen Fahrerinnen bei uns wohlfühlen. Ich versuche, sie abzuholen und sie zu unterstützen.»
Das sagt Swiss-Ski zu den Fällen
Heute ist das Schweizer Team nicht nur deutlich breiter aufgestellt als zu den Anfangszeiten von Hählen, Flury, Holdener und Gisin. Die Stimmung ist auch ganz anders. «Die Kultur der Athleten bei Swiss-Ski hat sich in den letzten zehn Jahren stark verändert», sagt Walter Reusser.
Der Alpin-Direktor nennt drei Punkte: «Erstens, das Hierarchiedenken ist anders, nicht nur im Sport. Die jungen Menschen haben oft mehr Selbstvertrauen, und die Älteren respektieren sie und helfen ihnen. Ich finde diese Entwicklung sehr positiv. Zweitens haben die Trainer mit den Nachwuchsfahrern einen langfristigen Plan und setzen sie stufengerecht ein. Drittens haben wir die Strukturen dahingehend angepasst, dass jene Fahrerinnen, die aus dem Europacup in den Weltcup stossen, von ihren angestammten Trainern betreut werden – damit behalten sie ihre wichtigste Bezugsperson. Und ganz allgemein verfolgen wir das Ziel, die Athletinnen entsprechend ihren Fähigkeiten mit Weitsicht zu fördern und ein Umfeld zu schaffen, welches eine individuelle Entwicklung ermöglicht. Heute trainieren die Athletinnen in homogenen Gruppen mit ähnlichen Zielsetzungen und Planungen. So bleiben Gruppen beständig und können sich kontinuierlich weiterentwickeln.»