Fränzi Aufdenblatten blickt über den Theodulgletscher hinunter zu den Laghi Cime Bianche. Dort befindet sich das Ziel der ersten Frauen-Abfahrt am Matterhorn. «Es war immer mein grosser Traum, hier ein Weltcuprennen zu bestreiten. Ich war eine Speed-Fahrerin, bin in Zermatt gross geworden und hätte mir nichts sehnlicher als ein Rennen vor meiner Haustüre gewünscht», sagt die 42-Jährige.
Zu Tode betrübt ist Aufdenblatten deswegen allerdings nicht. Im Gegenteil: Sie ist froh, als Teil des Kernteams die Premiere der neuen Abfahrt hautnah erleben zu dürfen. «Ich habe mir drei Wochen Ferien genommen, um dem OK über die Schultern zu schauen. Mich interessiert, wie die Verantwortungen verteilt sind und wie der Austausch mit der FIS funktioniert. Zudem helfe ich bei ganz praktischen Dingen, stelle Netze auf, räume den Neuschnee weg und rutsche die Piste ab.»
Stimmt es, dass sie Ambitionen hat, eines Tages die Rennleitung des «Speedopenings» zu übernehmen? «Das ist derzeit gar kein Thema. Ich schaue einfach über die Schulter vieler Menschen und schätze das sehr. Als Skirennfahrerin war mir nicht bewusst, wie viel Aufwand die Organisation eines solchen Rennens ist. Für mich ist das extrem faszinierend, ich lerne jeden Tag etwas.»
Lernen ist für Aufdenblatten ein gutes Stichwort. In ihrer Aktivzeit hat sie stets versucht, besser zu werden – ganz im Wissen, dass aus ihr keine Seriensiegerin würde. Dabei hatte ihre Karriere vielversprechend begonnen: Auf Gold bei der Junioren-WM in der Abfahrt im Jahr 2000 folgte ein Jahr später der gleiche Titel, diesmal im Riesenslalom.
«Es tönt komisch, aber diese frühen Erfolge haben mir das Leben schwer gemacht. Als ich in den Weltcup kam, steckte das ganze Schweizer Team in einem Loch. Das Scheinwerferlicht war grell, alle schauten auf uns. Damit konnte ich lange nicht umgehen, teilweise war ich ein Häufchen Elend.»
WM-Schande und die Segel-Nation
Aufdenblatten fing sich irgendwann, auch dank der Hilfe von Cheftrainer Angelo Maina, der sie förderte. Die Ski-Nation Schweiz löste sich damals trotzdem in ihre Einzelteile auf. «2003 mussten wir besonders viel Häme einstecken. Damals hatte Alinghi erstmals den America’s Cup gewonnen und es hiess, wir seien ab sofort eine Segel-, aber keine Ski-Nation mehr.»
Besser wurde es nicht. Im Gegenteil. Bei der WM 2005 holte das Schweizer Team keine einzige Medaille, die «Schande von Bormio» ging in die Geschichtsbücher ein. Obwohl Aufdenblatten zu dieser Zeit bereits ihren ersten Weltcuppodestplatz gefeiert hatte (Platz 3 bei der Abfahrt in Haus im Ennstal, Österreich), fehlte ihr die Konstanz, um ständig vorne mitzumischen.
Aufdenblatten will Kinder in den Schnee bringen
Trotzdem liess sich Aufdenblatten die Freude am Sport nicht nehmen, sie galt als Frohnatur. Und auch heute lacht sie viel und gerne. «Ich bin ein sehr positiver Mensch. Aber wie kann man das nicht sein, wenn man diese Berge und diesen Schnee um sich herum hat?», fragt sie rhetorisch. Aufdenblatten arbeitet unter der Woche in Bern als Team-Leiterin bei der Swisscom, sie ist für den Netzausbau zuständig – auch dafür ist sie Feuer und Flamme. «Ich mag das Thema Technik, aber auch die Gespräche mit Partnern», sagt sie.
Das ist aber nicht alles. Aufdenblatten ist seit kurzer Zeit auch Präsidentin der Schweizer Schneesportinitiative. «Es gibt viele Kinder, die in der Schweiz leben, aber nie auf Ski gestanden sind. Das wäre, wie wenn ich in Hawaii aufwachsen, aber nie aufs Surfbrett steigen würde.» Sie hilft dabei auch, Skilager für Kinder zu organisieren. «Es geht mir dabei nicht nur um den Sport. Ob jemand Profisport betreiben wird, ist sekundär. Gruppendynamik, Konflikte, Durchsetzungsvermögen, Heimweh – man lernt in Lagern so viel, das fürs spätere Leben wichtig ist.»
Was sie vermisst? Einen 50-Meter-Sprung
Am 20. Dezember 2009, kurz vor Weihnachten, gewann Aufdenblatten ihr einziges Weltcuprennen. Beim Super-G in Val d’Isère (Fr) war sie die Schnellste. «Ich musste lange warten. Umso mehr bin ich vor Freude ausgeflippt, als es passierte.» Doch Frust und Schmerz folgten auf dem Fuss. Nur einen Monat nach ihrem Triumph riss sich die Walliserin das Kreuzband – sie verpasste die Olympischen Spiele 2010. «Super Timing», sagt sie ironisch.
2014 beendete Aufdenblatten ihre Karriere. Nicht irgendwie, sondern mit einem Podestplatz beim Weltcupfinale in der Lenzerheide. «Ich wurde Dritte. Darauf bin ich besonders stolz, vielleicht noch stolzer als auf meinen einzigen Sieg», sagt sie.
Bleibt die Frage: Würde sie nicht gerne auch mal über die Piste am Matterhorn donnern, um sich ihren alten Traum doch noch zu erfüllen? «Nein. Das ist schon richtig, wie es ist. Nur etwas würde mich reizen.» Was? «Über einen richtigen Sprung zu flitzen und 40 oder 50 Meter weit zu fliegen. Dieses Gefühl hatte ich seit zehn Jahren nicht mehr.»