Selten stand der aus Holz geschnitzte Brunnen auf dem Weissenstein derart im Scheinwerferlicht, wie es am Samstagnachmittag kurz vor Schlussgang-Beginn der Fall war. Während die Zuschauer andächtig den Klängen der Landeshymne lauschten, führten sowohl Matthias Aeschbacher (30) wie auch sein «Final-Gegner» Domenic Schneider (28) ihre altbekannten Brunnen-Rituale durch und zeigten dem Schweizerpsalm die kalte Schulter.
Der kleine aber feine Unterschied: Aeschbacher wurde von der Hymne am Brunnen überrascht. Schneider hingegen lief inmitten der musikalischen Darbietung zum Abkühlungsort.
Eine speziell anmutende Szenerie, die bei vielen Nichtschwingern auf Unverständnis stiess. Und auch innerhalb der Kreise des Schweizer Nationalsports zu Diskussionen führte. Dort, wo sich immer noch gewisse Mitglieder über die Nati-Kicker enervieren, die vor einem Länderspiel sprachlos in die Kamera blicken.
Der zweifache Eidgenosse Stefan Burkhalter (48) hat die dummen Sprüche satt: «Nach neun ESAF-Teilnahmen weiss ich, dass die Hälfte der Schwinger
den Text von unserer Hymne nicht beherrscht. Wir dürfen uns diesbezüglich gegenüber den Fussballern also überhaupt nicht als Oberlehrer aufspielen.»
Aeschbacher bezieht Stellung
Der 110-fache Kranzgewinner stellt aber klar: «Ich persönlich singe immer mit, wenn ‹Trittst im Morgenrot daher› im Radio oder bei einem Schwingfest gespielt wird. Ich mache aber keinem einen Vorwurf, wenn er nicht mitsingt.»
Festsieger Aeschbacher, der den Psalm einwandfrei beherrscht, erklärt sich am Telefon: «Mir war nicht mehr bewusst, dass vor dem Schlussgang die Landeshymne gespielt wird.» Der Maurer aus dem Bernbiet befand sich bereits im Tunnel und gibt offen zu: «Vieles war Zufall. Es hätte auch sein können, dass ich während der laufenden Hymne zum Brunnen gegangen wäre und nicht Domenic.» Schlussgang-Verlierer «Dodo» wollte sich auf Blick-Anfrage nicht äussern.
Komplette «Psalm-Freiheit» für das OK
Während am Eidgenössischen Schwingfest die Landeshymne am frühen Samstagmorgen zum Inventar gehört, ist ihr Abspielen an anderen Wettkämpfen innerhalb des Schwing-Kosmos eher ungewöhnlich, aber legitim. «Seit einigen Jahren ist es jedem Organisationskomitee selbst überlassen, ob sie die Landeshymne abspielen wollen oder nicht», erklärt Rolf Gasser, der Geschäftsführer des Eidgenössischen Schwingerverbands, und äussert vollstes Verständnis für das Verhalten der beiden Schwinger.
Auf dem Weissenstein wird die Landeshymne seit Jahren kurz vor dem Schlussgang aufgelegt. Ein Ärgernis für Schwing-Oldie Burkhalter: «Die Hymne wird meines Erachtens im falschen Moment intoniert. Anstatt unmittelbar davor, sollte der Schweizerpsalm schon zehn Minuten vor dem Schlussgang abgespielt werden.»
Falscher Hymnen-Zeitpunkt?
Wo liegen die Vorteile? «Zu diesem Zeitpunkt kann sich ein Schwinger, welcher nicht mitsingen will, unbeobachtet hinter der Tribüne vorbereiten. Und durch das Ertönen der Hymne würden dann sogar die Leute im Festzelt bemerken, dass sie sich langsam aber sicher in Richtung Tribüne verschieben sollten, damit sie den alles entscheidenden Kampf nicht verpassen.»
Blick konfrontierte den OK-Präsidenten Michael Guldimann mit der Idee. Bisher hat sich dieser noch nicht zum Vorschlag des zweifachen Eidgenossen geäussert.