Auf einen Blick
Joel Wicki treibt es wieder einmal auf die Spitze! Der regierende Schwingerkönig absolviert in der «Folterkammer» seines Trainers Daniel Hüsler ein letztes knallhartes Training vor dem Saisonhöhepunkt in Appenzell. Der 1,83 Meter grosse Kraftwürfel aus dem Entlebuch legt sich für die Kniebeugen 250 Kilo auf die Hanteln und stählt danach an einem in den USA speziell für American-Football-Spieler und Kampfsportler entwickelten Drehgerät seinen Rumpf.
Vor der letzten Übung erhält Wicki von seinem Coach einen besonderen Muntermacher – Hüsler greift zur Fernbedienung seiner Musikanlage und lässt «Sirius», die Hymne der Chicago Bulls erklingen. Die gewünschte Wirkung bleibt nicht aus, der 25-fache Kranzfestsieger tankt durch diesen Rock-Song neue Kraft und wartet mit einem beeindruckenden Finish auf.
Nach diesem Training erzählt der sonst so volkstümliche König, warum ihm der Hit des britischen «The Alan Parsons Project» so guttut: «Ich habe mir die Netflix-Serie ‹The last Dance› über Michael Jordan und die Chicago Bulls immer am Abend im Bett angeschaut. Diese Serie ist mir heftig eingefahren. Basketball-Star Michael Jordan musste als Spieler einen brutalen Druck aushalten. Wie er das getan hat, ist einzigartig. Seine Geschichte und die dazugehörende Melodie verleihen mir im Training zusätzliche Motivation. Ich mag es, wenn ich im Training über die Grenzen hinausgehen kann, wenn ich meinen eigenen Körper so richtig testen kann. Und diese Hymne gibt mir in Phasen, wo ich eigentlich keine Kraft mehr habe, doch noch einmal Schub.»
Blick: Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie würden Sie Ihren Formstand unmittelbar vor dem Eidgenössischen Jubiläumsschwinget beziffern?
Joel Wicki: Beziffern kann ich das nicht. Aber ich kann sagen, dass ich richtig gut «zwäg» bin. Mein Körper ist nach diversen kleinen Verletzungen im Juni wieder schmerzfrei, ich konnte in den letzten Wochen optimal trainieren.
Sie feierten zu Beginn dieser Saison drei Kranzfeste innerhalb von drei Wochen. Dennoch haben Sie in dieser Phase nicht nur Positives erlebt. Bei Ihrem Gastspiel am Berner Oberländischen in Brienz haben sich Ihre Betreuer nach dem Gestellten gegen den jungen Fabian Aebersold über beleidigende Reaktionen des Berner Publikums beklagt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Diese Reaktionen haben mich im ersten Moment ziemlich getroffen. Ich habe mir deshalb ein paar Gedanken darüber gemacht, die ich den entsprechenden Personen auch mitgeteilt habe. Damit ist diese Geschichte für mich abgehakt.
Heisst das, dass Sie in Zukunft erneut als Gast im Bernbiet schwingen werden?
In dieser Saison sicher nicht mehr. Aber irgendwann werde ich wahrscheinlich schon wieder ein Schwingfest im Kanton Bern bestreiten.
Rund zwei Monate nach dem Berner Oberländischen war es eine Geste von Wicki, die beim Berg-Klassiker auf dem Brünig bei einigen Zuschauern Unverständnis auslöste. Was ist passiert? Wicki duellierte sich im Schlussgang mit seinem Innerschweizer Kollegen Pirmin Reichmuth, dem für den Festsieg ein Remis genügte. Der Zuger ging in der finalen Phase entsprechend defensiv zu Werke, was eine wütende Reaktion des Sörenbergers zur Folge hatte, welche eine TV-Kamera einfing. In konservativen Schwinger-Kreisen wurde Wicki kritisiert, weil ein solches Verhalten «nicht Schwinger-Art» sei.
Haben Sie sich in der Zwischenzeit mit Pirmin Reichmuth, der wegen Knieproblemen auf den Start in Appenzell verzichten muss, versöhnt?
Ich bin nicht mehr böse auf ihn, das Thema ist für mich erledigt. Wo Sport und Ehrgeiz sind, halten sich eben auch Emotionen auf.
Aber können Sie nachvollziehen, dass einige Schwingerfreunde Ihre Reaktion nach diesem Brünig-Schlussgang verurteilt haben?
Auch mir ist klar, dass das nicht die beste Situation war. Aber grundsätzlich übe ich diesen Sport ja für mich und nicht für andere aus. Und jeder, der den Schwingsport verfolgt und weiss, wie gross der Aufwand ist, der betrieben werden muss, um erfolgreich zu sein, wird verstehen, dass man in gewissen Situationen besonders emotional reagiert.
Emotionale Diskussionen hat vor dem Brünig-Schwinget auch der Brief ausgelöst, den Fabian Staudenmann an das OK gerichtet hat. Der Kilchbergsieger hat in seinem Schreiben neben einem höheren Preisgeld und einem Ticket-Vorkaufsrecht vor allem mehr Platz für die Wettkämpfer gefordert. Wie stehen Sie dazu?
Wenn man auf dem Brünig gross umdisponiert, würde dieses Fest seinen speziellen Charakter verlieren. Und das wäre extrem schade. Zumal die Platzverhältnisse für uns Schwinger bei den anderen Bergfesten ja auch sehr eng sind. Und dass an keinem anderen Bergfest die Nachfrage nach Tickets derart gross ist wie auf dem Brünig, zeigt ja auch, dass dieses Ambiente eine besonders starke Anziehungskraft auf die Zuschauer ausübt. Deshalb sollten wir dafür sorgen, dass es genau so bleibt, anstatt dass wir irgendetwas Neues züchten.
Sie fordern vom Brünig-OK auch nicht mehr Preisgeld?
Nein. Der Gewinn des Brünig-Kranzes ist mir viel wichtiger als die Summe des Preisgeldes.
Wicki zückt seinen Geldsäckel und bestellt in der Willisauer Sport Rock-Bar eine Getränkerunde für sich, seinen Coach und die SonntagsBlick-Reporter. Als ihn die Kellnerin fragt, ob er mit der Karte bezahlen möchte, winkt er ab und packt eine Hunderternote aus: «Einen Notgroschen habe ich immer dabei.»
Ihr Thronvorgänger Christian Stucki hat in einem Blick-Interview verraten, dass er durch seine Sponsorenverträge der Million sehr nahegekommen ist. Sind Sie ebenfalls bald Millionär?
(Lacht.) Darüber spricht man nicht, weil Geld ja gar nicht so wichtig ist. Die Gesundheit ist wichtig.
Aber ein ordentliches Polster auf dem Bankkonto kann die Gesundheit positiv beeinflussen.
Es ist sicher so, dass man im Schwingsport heute einen schönen Batzen verdienen kann. Aber ein Teil davon ist auch Schmerzensgeld. Die Intensität in unserem Sport ist mittlerweile derart hoch, dass die Chance ziemlich gross ist, dass man mit 50 oder 60 Jahren ein künstliches Hüft- oder Schultergelenk benötigt.
Ist es aufgrund dieses enormen Verschleisses möglich, dass Sie nach dem nächsten Eidgenössischen in Mollis mit gerade mal 28 Jahren Ihren Rücktritt erklären werden?
Ich habe schon mehrmals betont, dass es neben dem Schwingsport noch viele andere Dinge gibt, die mir extrem wichtig sind. Ich denke da vor allem an die Familie, Freunde, meinen Bauernhof und das Baggerunternehmen, das ich zusammen mit einem Kollegen führe. Aber bis im nächsten Jahr will ich auf jeden Fall im Schwingen Vollgas geben. Ich will nach Appenzell einen sauberen Aufbau für Mollis machen. Danach werde ich alles zusammen mit meinem Betreuerteam genau analysieren. Dann werden wir sehen, ob und wie weit wir noch gehen wollen.
Dass Wickis Übungsleiter weitermachen will, ist derzeit eher unwahrscheinlich. Daniel Hüsler hat schon mehrmals angedeutet, dass er nach Mollis wieder mehr Zeit in seine Familie, sein Unternehmen und in sein grosses Hobby Töfffahren investieren möchte.
Der Drittplatzierte vom ESAF 1992 hat in den letzten zwölf Jahren auch die Trainingspläne von Joels sechs Jahre älterem Bruder Kevin konzipiert, der als Schwinger den angestrebten Kranz jedoch noch nicht gewinnen konnte.
Joel, glauben Sie, dass Ihr Bruder manchmal unter Ihren Resultaten leidet?
Es ist für ihn manchmal sicher sehr hart, wenn er sieht, wie der Bruder den sportlichen Erfolg hat, der ihm selber trotz grossem Aufwand verwehrt bleibt. Kevin wurde immer wieder durch Verletzungen zurückgeworfen, aber sein Kampfgeist ist enorm, er steht immer wieder auf. Und ich weiss, dass er das Potenzial zum Kranzschwinger besitzt, er zeigt im Training regelmässig starke Leistungen. Deshalb glaube ich dran, dass der Tag kommen wird, an dem er auch im Wettkampf erfolgreich sein wird.