Es ist ein ungleiches Duell. Olympionike gegen Eidgenosse. 80 Kilogramm gegen 120 Kilogramm. Japanische Kampfkunst gegen Schweizer Traditionssport. Beim Aufeinandertreffen der Kontrahenten sticht die ungleiche Physis den beiden direkt ins Auge. Fast einen Kopf grösser ist Bieri, 50 Prozent mehr Gewicht bringt er auf die Waage. «Ich habe jetzt vermutlich nicht die beste Schwingerpostur, oder?», witzelt der Judo-Weltmeister. Bieri bestätigt: «So 80, 90 Kilogramm ist die untere Grenze unter den Schwingern.»
Beim Aufwärmen spielen diese Unterschiede aber noch keine Rolle. Bieri, ehemaliger Turner, macht gekonnt Sprünge und Rollen vor, vorwärts und rückwärts. Lässt sich via Kopfstand in die Brücke fallen, zeigt, wie man den Nacken richtig einwärmt. Stump macht alles ohne Zögern mit, auch als er den Kopf zum Dehnen ins Sägemehl drücken muss.
Kimono und Zwilchhosen
Während der Schwinger sich vom Sägemehl nicht irritieren lässt, versucht der Zürcher zu Beginn noch, das Gröbste jeweils aus den Haaren und dem zweiteiligen Kimono zu schütteln. Mit mittelmässigem Erfolg. «Ich muss sagen, die Tatami-Matten im Dojo sind mir schon lieber. Wahrscheinlich packe ich zu Hause dann auch noch ein bisschen Sägemehl aus», zieht er lachend ein erstes Fazit.
20 Minuten später sind die beiden Kampfsportler warm. Über seinen weissen Kimono aus robuster Baumwolle zieht Nils Stump nun die dunkelbraune Schwingerhose aus Leinenstoff an. Seinen schwarzen Gürtel, der das weit geschnittene Oberteil zusammenhält, stopft er in die Zwilchhosen und zurrt den Ledergurt fest. Beide Sportler können sich das Grinsen über das ungewöhnliche Outfit nicht verkneifen.
Kalkuliertes Risiko
Dann geht es los. Der Schwinger gibt ein paar kurze Instruktionen und legt den Judo-Weltmeister schon ein erstes Mal auf den Rücken – wenn auch mit deutlich mehr Vorsicht, als er es in einem Schwingtraining machen würde. Denn es steht einiges auf dem Spiel. Vor allem für seinen Gegner.
Während sich der Innerschweizer Bieri in den letzten Zügen der Saisonvorbereitung befindet, mit dem Jubiläums-Schwingfest in Appenzell als Highlight, steht die heisse Phase beim Ustermer Stump kurz bevor. Olympia ruft. Dank seinem Weltmeistertitel im vergangenen Jahr stehen die Chancen für eine Qualifikation sehr gut. Oder wie er selbst sagt: «Es müsste wirklich sehr viel schieflaufen, damit ich es nicht schaffen würde.»
Der Judoka ist gelernter Kaufmann, hat allerdings seit dem Lehrabschluss nie in diesem Beruf gearbeitet. Er lebt vom und für den Sport. Für den Primarlehrer Marcel Bieri unvorstellbar. «Das ist beeindruckend. Ich könnte mich nicht sieben Tage die Woche mit Sport beschäftigen, ich brauche da noch einen Ausgleich.» Für den Judo-Weltmeister wäre es unmöglich, zusätzlich einem Beruf nachzugehen. Jährlich reist er in etwa 18 Länder, für Trainingscamps oder Wettkämpfe. Die Zeit zu Hause in Windisch AG ist rar. Für das Experiment im Schwingkeller gibt er sie her.
Wyberhaagge auf Japanisch
Schon nach wenigen Testschwüngen ist klar – die beiden Kampfsportarten haben mehr gemeinsam, als sich auf den ersten Blick erahnen lässt. Fast bei jedem Schwung, den Bieri vorzeigt, kommt von Stump: «Ah, den machen wir auch!» Mit dem Unterschied, dass der Wyberhaagge im Judo Kouchi Gari heisst, der Hüfter ist ein O-goshi und der innere Haken ein O-uchi-gari.
Dann folgt der Ernstkampf. Verbeugen? Oder doch eher der klassische Handschlag? Bieri und Stump entscheiden sich für Letzteres, schliesslich hat der Böse im Schwingkeller Heimrecht. Beide suchen den Griff, Stump etwas umständlicher als Bieri, die unterschiedlichen Massen machen sich auch hier bemerkbar. Der Judoka sucht sofort den Angriff, doch bei einem Gegner, der 40 Kilogramm mehr wiegt als er selbst, ist das einfacher gesagt als getan. Es ist ein zähes Ringen – und endet gestellt.
Beide Kontrahenten schwitzen, wenn auch der Judoka etwas heftiger atmet. «So 90 Prozent habe ich schon gegeben. Aber gegen diese Masse ist es echt hart!» Bieri hingegen hat mit angezogener Handbremse geschwungen. 60 Prozent sei das gewesen. Aber mit ein paar Trainingseinheiten könne aus dem Judoka garantiert ein «ganz unangenehmer Gegner werden». Diese Schwingtrainings müssen aber noch ein Weilchen warten – jetzt stehen erst mal die Olympischen Spiele vor der Tür.