Zwei Fragen hat sich Joel Wicki (25) in den letzten drei Jahren gestellt: «Warum bin ich vor dem Eidgenössischen Schlussgang in Zug so viel früher aus der Garderobe gekommen als Stucki?» Und: «Hätte ich den Kampf gewonnen, wenn ich zuvor am Brunnen so viel Zeit zum studieren gehabt hätte?»
Damit er sich diese Fragen nicht noch drei weitere Jahre stellen muss, ist der Entlebucher am Sonntag vor der zweiten ESAF-Schlussgang-Teilnahme praktisch gleichzeitig zum Brunnen gelaufen wie sein Kontrahent.
Und vielleicht ist Joel Wicki jetzt tatsächlich König, weil ihm vor diesem Kampf weniger belastende Gedanken durch das Hirn geschossen sind. Ganz heftig den Kopf zerbrochen hat sich dafür seine Mutter Esthi. Und zwar vor ziemlich genau zwanzig Jahren. «Joel war im Kindergarten an einem heimtückischen Virus erkrankt. Er hatte wochenlang im Spital gelegen und musste die stärksten Schmerzmittel zu sich nehmen.»
«Er kümmerte sich liebevoll um die Ziege»
Der kleine Bub vom Sörenberg entwickelt sich dennoch extrem stark. Bei seinem ersten Schwingfest muss der im Februar 1997 geborene Joel zwar gegen Buben mit Jahrgang 1995 antreten, trotzdem gewinnt er auf Anhieb das «Zweigli» (der Kranz der Jungschwinger).
Wenige Wochen danach feiert Joel in Schafhausen im Emmental seinen ersten Festsieg.
Den ersten Lebendpreis erkämpft sich Joel mit acht Jahren – sein Triumph am Nachwuchsschwingertag in Niederbipp wird mit einer Ziege belohnt. Esthi Wicki wird vor allem die anschliessende Heimreise nie vergessen. «Joel sass während der ganzen Fahrt auf dem Rücksitz und kümmerte sich liebevoll um die gewonnene Ziege, die wir im Kofferraum platziert hatten.»
Daheim angekommen habe man das Tier dann im Stall des Nachbar untergebracht. «Joel hat sie dort praktisch jeden Tag besucht und sich blind mit ihr verstanden.»
Wicki ist weit unter der Durchschnittsgrösse
Wicki erschwingt aber schon bald sehr viel grössere Lebendpreise. Mit 17 legt Joel auf der Rigi mit Nöldi Forrer erstmals einen König auf den Rücken, mit 18 feiert er am Schwarzsee seinen ersten Triumph bei einem prestigeträchtigen Bergkranzfest. Dabei ist Wicki mit seinen 1,83 Meter den meisten Giganten im Reich der Bösen gar nicht gewachsen. Die Durchschnittsgrösse liegt bei den derzeit aktiven Kranzsfestsiegern bei 1,91 Meter. Und die meisten Top-Schwinger wiegen mindestens 120 Kilo, während der neue König gerade Mal 107 kg auf die Waage bringt.
Als Nachteil hat er das aber nie betrachtet: «Ich wäre nicht besser, wenn ich wie ein Samuel Giger oder Christian Stucki mehr als 1,90 Meter messen würde. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es schlechter funktionieren würde. Ich würde im Zweikampf weniger schwungvoll unten reinkommen. Und weil die Hebelwirkung eine ganz andere wäre, wäre ich wahrscheinlich auch anfälliger für Bandscheibenschäden oder Knieprobleme.
Kommentar von Felix Bingesser: König Wicki trägt das Herz auf der Zunge
Die Königin bleibt anonym
In Wickis Leben gibt es zwei besonders wichtige Stützen: Sein Trainer Dani Hüsler, der 1992 beim Eidgenössischen in Olten Dritter wurde, ist gleichzeitig einer seiner besten Freunde. Und seit ein paar Jahren gibt es auch eine Frau an seiner Seite. Die Königin will Joel aber der Öffentlichkeit vorenthalten: «Es ist der Wunsch meiner Freundin, anonym zu bleiben.»
Wicki selber wird ab heute in der Eidgenossenschaft aber kaum noch einen Platz finden, wo er seine Ruhe haben wird. Ausser vielleicht bei seinem grössten Hobby, der Jagd. Und aus Aberglaube hat Wicki immer einen Hirschzahn im Portemonnaie. Und dieser tierische Talisman hat ihm gestern offensichtlich Glück gebracht.