Am Sonntag donnert er mit 40 km/h über die rausten Kopfsteinpflaster Frankreichs. Zwei Wochen vorher ist Stefan Bissegger (26) beim Treffen mit Blick doppelt so schnell unterwegs. Wo? Auf der Gokart-Bahn in Sulgen TG. Danach sagt er: «Meine Hüfte schmerzt ein wenig, weil ich in den Kurven richtiggehend in die Seite des Sitzes hineingedrückt wurde. Aber im Vergleich zu Paris–Roubaix war das ein Zuckerschlecken», so der Schweizer Velo-Profi.
Doch der Reihe nach. Bissegger fährt mit seiner Vespa im Industrieareal von Sulgen pünktlich um 13 Uhr vor. «Ich war schon ein paar Mal mit Kollegen auf dieser Bahn. Sie macht wirklich viel Spass. Allerdings hatten wir solch harte Positionskämpfe, dass ich mich schon gefragt habe, ob das gut endet», so der Thurgauer. Diesmal nimmt es Bissegger gemütlicher, er misst sich lediglich mit dem zwanzig Jahre älteren Blick-Reporter. Wer die schnellste Rundenzeit erzielt, gewinnt. «Abgemacht», so Bissegger.
Während es der frühere Fan von Michael Schumacher (56, De) auf dem Velo zu Beginn der Rennen oft ruhig angehen lassen kann, gibt Bissegger in Sulgen von Beginn an Gas. Bereits bei den Aufwärmrunden drückt er etwas zu spät und zu fest auf die Bremse seines Benzin-Boliden und dreht sich.
Doch Muni, wie ihn viele wegen seiner bulligen Postur nennen, lässt sich nicht beirren. Nach dem Kaltstart dreht er immer mehr auf. Bald holt er den Blick-Chronisten ein, überholt ihn und fährt mit 37,237 Sekunden auch die schnellste Runde. «Nun hoffe ich, dass ich bei Paris–Roubaix an diese Leistung anknüpfen kann», meint Bissegger schmunzelnd.
«Ich bin kein Überflieger»
Paris–Roubaix, auch Hölle des Nordens genannt, wird für Bissegger mit seinen 259,2 Kilometern und 30 Pavé-Abschnitten eine weitaus grössere Herausforderung werden. Zum vierten Mal startet er bei den Profis. Seine bisherigen Klassierungen: die Ränge 62, 21 und 26. Was folgt? «Hoffentlich das Podium», sagt er. «Leider hatte ich bislang nie wirklich Glück. Einmal brach ich mir die Hand und einmal erlitt ich im dümmsten Moment einen Platten.» Jetzt fühlt sich Bissegger vor dem Rad-Klassiker im Norden Frankreichs so stark wie noch nie. «Die Beine sind super. Wenn ich nichts Unvorhergesehenes habe, kommt es gut.»
Zu den Favoriten auf den Sieg im Vélodrome von Roubaix zählt Bissegger nicht. Doch das ist ihm egal. «Ich bin kein Überflieger wie Mathieu van der Poel oder Tadej Pogacar», sagt er und nennt damit gleich die grössten Sieganwärter. «Sie können auch dann gewinnen, wenn etwas schiefläuft. Alle anderen, so auch ich, brauchen ein wenig Glück.»
Zum Beispiel im Wald von Arenberg, dieser von miserablen Pavés gespickten Passage, bei der schon manche Träume und Knochen zersplitterten. «Dort ist es am schlimmsten. Es schüttelt so heftig, dass du mindestens zwei oder dreimal bis zu den Felgen durchschlägst. Es macht null Spass.»
Paris–Roubaix-Sieg? So wertvoll wie ein WM-Titel
Trotzdem: Bissegger bleibt optimistisch. Das hat auch mit seinem Teamwechsel zu tun. Nach fünf Jahren im US-Team EF Education wechselte er nach Frankreich zu Decathlon. «Bei EF hat zuletzt jeder sein eigenes Ding gemacht. Hier ist der Teamspirit besser. Wir haben viele Belgier, die einen tiefen Humor haben. Das gefällt mir – wir haben ein richtiges Gaudi. Gleichzeitig arbeiten alle – auch der Staff – sehr hart.»
Bei Paris–Roubaix wird Bissegger mit Oliver Naesen (34, Be) eine Leaderrolle einnehmen – sie bilden eine Doppelspitze. Und was wäre, wenn er gewinnen würde? Der grosse Pflasterstein, den die Sieger erhalten, hat seit Fabian Cancellara 2013 kein Schweizer mehr gewonnen. «Er wäre so wertvoll wie ein Weltmeistertitel», so Bissegger.