Kaum ein Velo-Profi kennt die Stärke und Widerstandskraft des menschlichen Körpers so genau wie Marlen Reusser. Kein Wunder: Die 32-Jährige ist ausgebildete Ärztin. Doch derzeit lässt ihr eigener Körper sie im Stich. Nachdem die Super-Zeitfahrerin aus Hindelbank BE bereits die Olympischen Spiele in Paris verpasste, könnte für sie auch die Heim-WM ausfallen.
Denn: Gesund ist die Frau, die 2020 bei der WM und 2021 bei Olympia jeweils Silber hamsterte, aktuell nicht. Sie leidet an ME/CFS. Die Abkürzung steht für Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom. Betroffene leiden neben schwerer körperlicher Schwäche auch an autonomen und immunologischen Symptomen. Charakteristisch dafür ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM).
Dabei werden alle Symptome bereits nach geringer körperlicher und geistiger Anstrengung extrem verstärkt. Ein Alptraum! Bei Reusser soll sich dies vor allem durch plötzliches Ansteigen der Körpertemperatur äussern – kaum bewegt sie sich, bekommt sie Fieber und muss ins Bett, um sich zu schonen.
Covid als Ursache?
Reusser wird sich bald öffentlich dazu äussern. Womöglich auch zur Frage, ob ihre Erkrankung durch die mehreren Covid-Infektionen, welche sie in den letzten Jahren hatte, ausgelöst wurde.
Fakt ist: Experten gehen davon aus, dass sich die Anzahl ME/CFS-Betroffenen seit Ausbruch der Covid-Pandemie im Jahr 2020 verdoppelt hat. Weltweit sollen 17 Millionen Menschen von der neuroimmunologischen Erkrankung betroffen sein.
Für die Organisatoren der Heim-WM wäre ein Ausfall Reussers ein Schock – nicht nur, weil Reusser die Botschafterin der Titelspiele ist. «An erster Stelle steht Marlen selbst – ich hoffe sehr, dass sie bald wieder gesund wird», sagt Olivier Senn. Der Leiter Sport des Anlasses gibt aber zu: «Sollte Marlen tatsächlich fehlen, ist das ein grosser Dämpfer.» Trotzdem sei er überzeugt, dass die WM vom 21. bis 29. September ein grosses Velo-Fest werde – mit oder ohne Reusser auf dem Velo.
Das Jahr 2024? Pleiten, Pech und Pannen
Noch bleibt Reusser ein Monat, ehe am 22. September das WM-Zeitfahren von Gossau nach Zürich (29,9 Kilometer) steigt. Sollte die Spezialistin im Kampf gegen die Uhr dann nicht dabei sein, wäre dies die Fortsetzung einer Alptraum-Saison.
Rückblick. Kurz vor Weihnachten 2023 rutscht sie beim Training auf Mallorca auf einer Ölspur weg und erleidet einen Bänderriss. Es folgt eine Corona-Erkrankung im Februar. Dann, bei der Flandernrundfahrt Ende März, bricht sie sich bei einem Auffahrunfall Kiefer und Gehörgänge – auch acht Zähne sind beschädigt. Danach plagt sie ein mysteriöser Infekt, bei dem alle konsultierten Ärzte im Dunkeln tappen. Reusser kehrt zwar aufs Velo zurück, die Burgos-Rundfahrt Mitte Mai ist aber ihr bisher letzter Wettkampf. Es geht nicht mehr. Tour de Suisse, Olympia, Tour de France und nun die WM in Zürich – alles geht den Bach runter.
Rücktritt laut Blick-Infos kein Thema
Reusser würde in Zürich zu den grössten Schweizer Gold-Hoffnungen zählen. In Normalform, versteht sich. Denn: Derzeit scheint Reusser nicht einmal Sport auf Hobby-Niveau ausüben zu können.
Was das für ihre Zukunft heisst? Ihr Vertrag bei SD Worx läuft Ende Jahr aus. Wäre sie eine Durchschnitts-Athletin, würde dies zum Problem – schliesslich will kaum ein Team eine Fahrerin verpflichten, hinter deren Gesundheit ein so grosses Fragezeichen steht. Sollte sich Reusser aber erholen, würde sie wohl schon bald rasch mit Anfragen überhäuft werden.
Doch was, wenn Reusser die WM verpasst? Im Januar hatte sie noch gesagt: «Olympia und Heim-WM sind meine grössten Ziele!» Droht dann gar ein Rücktritt? Gemäss Blick-Infos ist dies für sie überhaupt kein Thema. Vorerst liege ihr Fokus ganz darauf, wieder auf die Beine zu kommen.