Am 24. Juli 1983 geschieht etwas, das es bis heute nie wieder gegeben hat. Ein Schweizer gewinnt einen Massensprint bei der Tour de France. Sein Name: Gilbert Glaus (66). Der Mann aus Kerzers im Kanton Freiburg ist auf den Champs-Élysées früh im Wind, zieht den Sprint von der Spitze an durch und siegt vor Irlands Rad-Star Sean Kelly (66). Es ist der bei weitem grösste Sieg in der Karriere von «Schibu».
39 Jahre sind seit diesem Triumph vergangen. Seither gewann nie mehr ein Radgenosse einen Massensprint bei der Tour de France. Und weder heute noch in den nächsten 19 Etappen wird sich daran etwas ändern. Stefan Küng (28) und Stefan Bissegger (23) sind zwar exzellente Roller, wagen sich aber vor dem Ziel bei 70 km/h nicht in ein Getümmel. Gleiches gilt selbstredend für Marc Hirschi (23), der mit seinen 61 Kilo gut die Berge hochkommt, aber weder den Körper noch die Wucht für einen Massensprint hat.
Bleibt Silvan Dillier (31), der vierte und letzte Schweizer an der Tour. «Er hätte aus meiner Sicht das Zeugs, um einen Massensprint zu gewinnen. Silvan kommt von der Bahn, ist ein Steuerkünstler und hat keine Angst. Aber seine Karriere entwickelte sich anders, heute darf er bei Alpecin-Deceuninck nur selten seine eigenen Karten ausspielen», sagt Urs Freuler (63).
«Sprinter wie ich sterben aus»
Die Rad-Legende aus Altendorf SZ weiss, wovon er spricht. Freuler ist zehnfacher Weltmeister auf der Bahn, gewann zwischen 1982 und 1989 beim Giro d’Italia 15 Etappen – die allermeisten im Massensprint. Das gilt auch für seine neun Siege bei der Tour de Suisse. Und auch bei seiner einzigen Teilnahme an der Tour de France im Jahr 1981 stand der Mann mit dem markanten Schnauz auf dem obersten Podest, er siegte in Bordeaux. Wie? Logisch, im Sprint.
Freuler ist unsere erste, einzige und letzte Sprint-Rakete. «Ich frage mich auch schon seit langem, warum ich nie einen Nachfolger hatte», sagt der Mann, der seit vielen Jahrzehnten eine Radsport-Boutique führt. «Bruno Risi hätte es sein können, aber er setzte voll auf die Bahn. Letztlich sterben klassische Sprinter, wie ich es war, aber sowieso langsam aus.» Typen wie Guido Bontempi (62), Mario Cipollini (55) und er seien kaum noch gefragt, so Freuler. «Heute muss ein Sprinter auch Helferdienste leisten und es über die Berge schaffen. Kommt dazu, dass es immer weniger reine Flachetappen gibt.»
Freuler spricht ganz ohne Groll. Und trotzdem beschäftigt die ehemalige Sprint-Rakete das Thema durchaus. «Ich würde diesen Titel gerne an einen anderen Schweizer abgeben. Wahrscheinlich behalte ich ihn aber noch eine Weile – vielleicht sogar bis zu meinem Tod», sagt er.
Wie findet man ein Sprint-Talent?
Die Modernisierung des Radsports ist ein Aspekt für den Mangel an Schweizer Sprintern. Dennoch erstaunt die helvetische Schwäche, weil sie schon so lange andauert. In den fast vier Jahrzehnten nach Glaus’ Triumph in Paris holten die Radgenossen 23 Tour-Etappensiege, aber keinen einzigen im Sprint.
Und auch in den Statistiken der Tour de Suisse sucht man seit Freulers letztem Sieg 1989 vergebens nach einem ähnlichen Triumph. Es gab 38 Siege, aufgeteilt auf 14 Zeitfahren, 13 Bergetappen, 6 Flachetappen (ohne Massensprint) und 5 hügelige Teilstücke. «Neben der Klasse braucht es im Sprint auch eine gute Portion Mut. Man muss auch die Ellbogen ausfahren können», sagt Freuler. Liegt das nicht in der Natur der Schweizer Radprofis? Vielleicht. Es gibt aber weitere Gründe.
Ein Problem ist die immer geringere Anzahl Rennen für Kinder und Jugendliche. «Früher gab es viel mehr Kriterien. Da war der Parcours meist flach, man fuhr in den Städten um die Häuserecken. Oft wurden die Rennen im Sprint entschieden», weiss Freuler. Beat Müller pflichtet ihm bei. Er ist Head of Performance bei Swiss Cycling und Spezialist für Talenterkennung- und förderung. Müller meint: «In der Schweiz gibt es bei Rennen meist viele Höhenmeter. Wer am Berg nicht gut ist, taucht in den Ranglisten nicht weit vorne auf. Dementsprechend schwierig ist es, potenzielle Sprinter zu erkennen.»
Dieses Manko will der Verband beheben. «Wir dürfen den Fokus nicht mehr nur auf die Rennergebnisse und Ausdauerwerte eines jungen Fahrers legen. Entscheidend ist die Peak Power, also die maximale Leistung – auch über kürzere Zeit. In der Vergangenheit wurde da zu wenig genau hingeschaut. Diese Lücke wollen wir schliessen», so Müller.
Aber braucht es das überhaupt? Schliesslich gibt es – wie Freuler anmerkt – kaum noch Massensprints. «Auf jeden Fall. Denn heute gibt es häufig Rennen, bei denen kleine Gruppen ins Ziel kommen. Und dann ist es entscheidend, wie gut ein Athlet sprinten kann», ist Müller überzeugt.
«Das bereitet mir Hühnerhaut»
Zurück ins «Air Force Center» von Dübendorf, wo Freuler für einige letzte Fotos posiert. «Ich werde die Tour de France ganz genau verfolgen, denn der Radsport macht mir nach wie vor viel Spass», sagt er. Und was ist, sollte in den nächsten Jahren doch noch ein Schweizer einen Massensprint bei einem grossen Rennen gewinnen? Freuler: «Das wäre wunderbar. Nur schon der Gedanke daran bereitet mir Hühnerhaut!»