Reporter-Legende blickt zurück: Tour-de-Suisse-Momente für die Ewigkeit
Richards Tränen und der Verrat an einem Schweizer

Hans-Peter Hildbrand (68) begleitete von 1980 bis 2019 für Blick 40-mal die Tour de Suisse – ohne Sieg, mit nur einem Blechschaden! Hier erzählt er seine besten Tour-Geschichten.
Publiziert: 04.06.2024 um 08:56 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2024 um 10:07 Uhr
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Mehr Nähe ging nicht: Blick-Journalist Hans-Peter Hildbrand war 39 Jahre lang am Puls des Tour-de-Suisse-Geschehens.
Foto: SOL

Erste Tour de Suisse und gleich eine Mahnung

Es ist der 11. Juni 1980 in Rheinfelden, der Start zu meiner ersten von 40 Schweizer Landesrundfahrten. Die Blick-Legenden Serge Lang und Josef Keel begleiten mich zum Antrittsgespräch bei Tour-Direktor Sepp Voegeli. «Aha Walliser», meint der Boss und mahnt: «Schribet Sie de kein Seich...»

Das sass. «Nicht tragisch nehmen», tröstet mich Josef Keel. «Das sagt er allen vor dem Start seines Rennens.» Den Prolog und die ersten fünf Etappen (!) gewinnt Daniel Willems. Blick spendierte 1000 Franken dem Schweizer, der den Belgier als Erster schlägt. Oscar Diericks (Be) gewinnt in Spiez, der Genfer Thierry Bolle wird Zweiter – und kassiert ab.

Vor dem Start zur 8. Etappe Bellinzona–Mendrisio (66 km) habe ich die Order, mit Roland Salm zu reden. Er imponierte mir, gab mir nicht das Gefühl, ein blutiger Anfänger zu sein. Und abends darf ich meine erste grosse Story tippen – Roland Salm hat die Sprintetappe gewonnen.

Theater auf dem Bundesplatz: «Wer ist Miguel Indurain?»

An der Tour der Suisse 1989 treffe ich Miguel Indurain zum ersten Mal. Ein belgischer Kollege hat mir vom Spanier erzählt. Dieser sei noch etwas dick, aber der werde mal ein ganz Grosser.

An der internen Sitzung vor der ersten Etappe in Bern komme ich mit Miguel Indurain in Kontakt. «Wer ist Miguel Indurain?», ärgert sich ein Kollege. Indurain steht auf der Kippe, bis Altmeister Serge Lang eingreift. «Indurain wird der neue Luis Ocaña», zwinkert mir zu – Indurain ist im Blatt. Ein paar Minuten später gesteht er mir, den Namen Indurain nie gehört zu haben.

Aber was für ein Theater am nächsten Morgen! TdS-Direktor Sepp Voegeli kanzelt mich auf dem Bundesplatz ab: «Sie, Hildbrand, was soll der Spaniöggl im Blick? Haben wir nicht genug Schweizer am Start? 39 Schweizer – Gottverdelli!», schreit er.

Zwei Jahre später gewinnt Miguel Indurain seine erste Tour de France. Sepp Voegeli gesteht im Herbst 1991: «Sie, Hildbrand, Ihr Spanier ist nicht so schlecht – aber der soll die Tour de Suisse gewinnen, dann erst ist er ein Grosser!» Miguel Indurain gewinnt dann noch viermal in Serie die Tour de France. Die Tour de Suisse aber fährt er nie mehr.

Pascal Richard sagte Danke, weinte und umarmte mich

«Ciao, wie geht’s?» Doch diesmal war es mehr als ein Händedruck. Pascal Richard hat mich 1999 vor dem TdS-Start in Solothurn gesucht. Ich spüre, er will Abschied nehmen. Er legt den Arm um meine Schulter, schaute mich mit seinen melancholischen Augen an.

«Du bleibst – ich gehe. So ist das Leben. Für mich hat es nach 14 Jahren keinen Platz mehr im Radsport!» Er hat sich bedankt für all die Blick-Artikel – und läuft weg. Ich stehe alleine da.

Was haben wir zwei so alles erlebt! Zusammen Brot gebacken, Chasselas getrunken. Gegeneinander Eishockey gespielt. Ich habe seine Siege und seine Niederlagen miterlebt. All das schiesst mir durch den Kopf.

Ein paar Stunden später dann dieses Finale. Ich warte in Lausanne im Ziel. Pascal Richard ist vorne dabei. Ich zweifle. Ich glaube nicht an Wunder im Radsport. Ich habe mich getäuscht. Pascal fährt alleine weg, gewinnt mit einer Sekunde Vorsprung auf Francesco Casagrande (It), Laurent Jalabert (Fr) und Laurent Dufaux (Sz). Sein letzter grosser Sprint wird sein letzter Sieg. Im Zielraum umarmt er mich, will mich nicht mehr loslassen.

Pascal weint, ich habe nasse Augen. Es gibt doch schöne Momente im Radsport.

Zülle fährt sich ins Elend

Alex Zülle und die Tour de Suisse. Das ist ein Alles oder Nichts. 1995 fährt er zum ersten Mal. «Ich konnte Once-Chef Manolo Saiz endlich überzeugen, statt in Katalonien die Tour de Suisse zu fahren.»

In Bellinzona sind gerade 7,1 der insgesamt 1620 Kilometer gefahren. Schon brennt das Duell Alex Zülle (damals 27) gegen Tony Rominger (34). Die Schweiz teilt sich 1995 in zwei Lager. Wie in den 50er-Jahren, als sich Ferdy Kübler und Hugo Koblet bekämpften. Um 78 Hundertstelsekunden fährt Alex im Prolog schneller als Giro-Sieger Tony Rominger (34).

Zülle gewinnt auch das Bergzeitfahren auf der Schwägalp. Mit 81 Sekunden Rückstand wird der unbekannte Russe Pawel Tonkow Dritter. Dann gibt Rominger auf. Ein paar Tage später ärgert sich die Schweiz und denkt: «Tonkow, wärst du doch nur in Russland geblieben...»

Auf der Königsetappe nach La Punt im Engadin fährt Tonkow früh in einer Ausreissergruppe mit. «Kein Problem», meldet Teamchef Manolo Saiz. Zülle glaubt ihm – es ist sein Untergang. Auf dem Albula-Pass hat Alex 1:41 Minuten Rückstand auf den Russen. Aus der Traum – nach sieben Tagen im Goldtrikot verpasst er den Gesamtsieg um elf Sekunden.

Später sagt Pascal Richard. «Alex hat nur auf mich geschaut. Hätte er mich gefragt, ich hätte ihm gesagt, dass Tonkow der Stärkste sei.» Aber eben: Champions fragen nie, sie fahren – ab und zu halt auch ins Elend.

Mathias Frank am Albula verraten

Wieder der Albula, diesmal 2013, das Opfer ist Mathias Frank. Verlassen von seinem BMC-Team ringt er im Aufstieg um Luft.

Der Albula soll die Masterarbeit für Mathias Frank werden. Er muss beweisen, ob er eine zehntägige Rundfahrt gewinnen kann. 4000 Meter vor der Passhöhe greift Rui Costa (Por) an. Frank bekommt «keine Luft», wie er nach dem Rennen erklärt, kann nicht folgen. Er ist in Gefahr, mit ihm das Gelbe Trikot.

Frank braucht Unterstützung. Er bekommt sie nicht. Sein letzter Helfer Tejay van Garderen (USA) bleibt nicht bei ihm – er folgt dem Portugiesen. Frank kämpft verbissen, wird noch Neunter, bleibt in Gelb, hat aber nur noch 13 Sekunden Vorsprung auf Verfolger Rui Costa.

«Warum liess Teamchef John Lelangue seinen Leader Frank alleine?» Mit einer Notlüge («Ich sagte Van Garderen, er solle mit Costa mitfahren») nimmt Frank seinen Chef in Schutz! Frank weiss, wie Lelangue tickt: Für den Belgier gibt es mit Weltmeister Gilbert (Be), Tour-Sieger Evans (Aus) und Van Garderen (wichtig für den US-Markt) nur drei Rennfahrer – der Rest im Team ist Manipuliermasse.

Das Selbstvertrauen von Mathias Frank ist weg. Er weiss: Van Garderen hat ihn im Finale verarscht, und die BMC-Chefs haben es toleriert. Das kostet Frank den TdS-Sieg – er wird Fünfter. Lelangue wird einen Monat später gefeuert.

Der Fehler, Walliser zu sein

Dienstag, der 19. Juni 1984, Ankunft in Fiesch VS. Es hat wenig Zuschauer im Zielraum. Prompt laufe ich Tour-Direktor Sepp Voegeli in den Hammer. «Gottverdelli, das gibt es ja nicht», ruft er aus. «Die Tour de Suisse kommt nach Fiesch – und die Schulen machen einen Ausflug.»

Er liest mir die Leviten. Ich antworte höflich. «Herr Vöegeli, ich bin nicht aus Fiesch, ich bin aus Visp.» Er kontert noch lauter: «Ist mir egal, Sie sind Walliser!»

Gar ein Gräuel sind Sepp Voegeli (bis 1991 TdS-Direktor) bärtige und langhaarige Radprofis. «Gönd sie ändli zum Coiffeur», sagt er dem Holländer Henk Lubberding (Ho), als dieser auf dem Siegerpodest steht.

Als der Italiener Mario Beccia, Gesamtsieger 1980, das Rennkäppi zur Seite legte, trifft Voegeli fast der Schlag: Der neue Mann im Goldtrikot ein Glatzkopf – das darf ja nicht wahr sein. «Leget sie sofort s’Käppli a, bevor sie ufechömmet», brüllt Voegeli.

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