Rad-Stars stellen laufend neue Bestwerte auf
Verdächtige Rekordjagd an der Tour?

Bei der spektakulären Tour de France fährt neben der Bewunderung wieder einmal die Skepsis mit. Was dabei wichtig zu wissen ist.
Publiziert: 13.07.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2024 um 11:32 Uhr
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Die beiden Tour-Überflieger: Tadej Pogacar (r.) und Jonas Vingegaard zeigen wie letztes Jahr unfassbare Leistungen.
Foto: keystone-sda.ch
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Simon StrimerReporter & Redaktor Sport

Der Wahnsinn geht nahtlos weiter. Wie bei der Tour letztes Jahr purzeln auch bei dieser Ausgabe Rekorde. Leader Tadej Pogacar (25) bewältigt berühmte Aufstiege so schnell, wie es noch niemand getan hat, sprintet gerne auch mal mit über 30 km/h die steilsten Rampen hoch. Titelverteidiger Jonas Vingegaard (27) hält nun mit Pogacar mit und ist drauf und dran, das Momentum an der Tour-Spitze umzukehren, obwohl er noch im April nach einem Horror-Sturz mit schwerer Lungenverletzung und Knochenbrüchen am Boden lag und befürchtete, er würde vielleicht sterben.

Die Rad-Welt staunt einmal mehr über die zwei Überirdischen. Noch nicht überirdisch ist jedoch das Vertrauen in die Sauberkeit des Sports nach der düsteren Doping-Vergangenheit. Zu gut in Erinnerung sind verhängnisvolle Tage wie die des Festina-Skandals, die nun 26 Jahre zurückliegen, ebenfalls die sieben Tour-de-France-Siege von Lance Armstrong von 1999 bis 2005, die nachträglich wegen Dopings alle gestrichen wurden. Die letzten grossen Dopingskandale im Radsport sind zwar länger her, haben aber tiefe Spuren hinterlassen.

Dazu sagte Vingegaard vor einem Jahr: «Ja, wir sind schnell und brechen Rekorde. Es ist also gut, skeptisch zu sein, damit sich die Geschichten nicht wiederholen.» Gleichzeitig versicherte der Däne: «Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich nichts nehme.» Die Stars sagen es selber: Es ist gut, skeptisch zu sein. Gleichzeitig gibt es auch plausible Erklärungen für neue Rekordleistungen.

Bei Pogacar-Rekord vergleicht man Äpfel mit Birnen

Ein Beispiel: Pogacars Wahnsinns-Ritt beim berühmten Galibier-Alpenpass (2627 Meter über Meer) vor gut einer Woche auf der vierten Etappe. Der Slowene stellte einen neuen Rekord auf. Über eineinhalb Minuten schneller war er als Nairo Quintana im Jahr 2019, der bisherige Rekordmann. Die letzten 700 Meter mit auf der durchschnittlich sehr steilen 10-Prozent-Steigung meisterte er mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 24 km/h.

Bei vielen tauchte Skepsis auf, auch, weil sich Leistungswerte der Stars in atemberaubenden Sphären bewegen (beim Pogacar-Rekord waren es gemäss den Experten von «Lanterne Rouge» 6,3 Watt pro kg Körpergewicht über 20 Minuten). Jedoch sind die Umstände zu berücksichtigen. Zwei Experten vom «Global Cycling Network», die beiden britischen Ex-Profis Daniel Lloyd (43) und Simon Richardson (41), ordnen den Galibier-Rekord ein: «Pogacar war sogar drei Minuten schneller als der Schnellste 2022. Aber 2022 war der Anstieg nicht am Schluss der Etappe, sondern in der Mitte.» Ein gewichtiger Unterschied.

Und der nun unterbotene Quintana-Rekord von 2019 fiel damals in der dritten Tour-Woche nach bereits 17 Etappen in den Beinen. Heuer war es die vierte Etappe, die Fahrer noch frisch. «Nicht nur Pogacar war schneller als Quintana, sondern die besten Acht waren in diesem Jahr schneller, als er damals», fügen die beiden Experten an. Die Umstände sind also zu berücksichtigen – genauso die Entwicklungen im Radsport.

Früher viel mehr Renntage

Im britischen Radsport-Magazin «Rouleur» bedenkt Leistungs-Manager Dan Green vom Team Isreal-Premier-Tech: «Auch eine Rolle spielt, dass der Verband die Anzahl Renntage auf 85 pro Saison begrenzt hat. Vor vielen Jahren fuhren die Fahrer über 120 Renntage pro Saison, vor zehn Jahren viele noch 100 Tage. Jetzt sind es für die meisten nur noch 70 bis 75.» Pogacar wird zum Ende der Tour bei 52 sein. Zusätzlich sind die Tour-Etappen tendenziell kürzer als früher.

Dazu kommen die technischen Entwicklungen. Jenco Drost, Chef der Materialentwicklung beim «Team Visma Lease a Bike», erklärt bei CH Media: «Die Form der Helme wird immer wieder modifiziert und das ganze Zusammenspiel von Fahrer, Rad und Kleidung im Windkanal optimiert. Bis zu 30 Watt lassen sich allein damit herausholen.» Das macht im Rennen viel aus.

Tour-Leader wird jeden Tag getestet

Die Entwicklungen sind das eine. Zum anderen präsentierte der Weltverband Tage vor dem Tour-Start eine Liste von Hürden, die allfällige Doping-Betrüger zuerst überwinden müssten. So werden Etappensieger und Träger des Gelben Trikots bei jeder einzelnen Etappe getestet. «Während der Tour werden rund 600 Blut- und Urinproben entnommen.» Rund 400 Tests wurden offenbar im Monat vor der Tour durchgeführt. Und ein Motörchen im Velo? Auch nicht einfach. Vor den Etappen würden alle Räder mit magnetischen Geräten getestet – und nach der Zieleinfahrt direkt markiert, um sie anschliessend nochmals zu testen.

Wenn Pogacar und Vingegaard dann 211 km und über 4000 Höhenmeter in unter fünf Stunden bewältigen, wie alle Top-10-Fahrer bei der spektakulären 11. Etappe, mit einem Schnitt von 42,5 km/h über die Berge, staunt die Rad-Welt natürlich trotzdem. Aber aufgepasst auf die Umstände, unter denen neue Rekorde fallen.

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