Eines ist bei Marlen Reusser (30) sicher: Wenn sie spricht, ist es nie langweilig, dafür tiefgründig. Und doch sagt sie am Ende zu den Journalisten: «Schreibt bitte nach diesem Käse, den ich soeben erzählt habe, keinen Käse.» Alle lachen, auch sie. Doch wie kommt die Bernerin darauf, dass sie soeben einen «Käse» erzählt hat?
Vielleicht liegt es daran, dass es für das Aushängeschild des Schweizer Frauen-Radsports nur ganz selten Schwarz oder Weiss gibt. Reusser ist vielseitig interessiert, saugt Informationen und Meinungen auf wie ein Schwamm, wägt ab und zieht ihre Schlüsse. Ob sie richtig sind? Sie stellt keinen Anspruch darauf. Und so antwortet sie auf die Frage, ob sie ein Winnertyp sei, wie folgt: «Ich weiss es nicht. Das ist eine Diskussion, die ich mit mir selber führen muss.»
«Ich bin nicht verbissen»
Reusser steht nach 14 Rennen in dieser Saison noch ohne Sieg da. Das erstaunt. Denn: 2021 holte sie sechs Siege, sie wurde Europameisterin, Vize-Olympiasiegerin und Vize-Weltmeisterin im Zeitfahren. Dazu kam der zweite Gesamtrang bei der Vuelta – ein Beweis dafür, dass sie definitiv im Reigen der Besten angekommen ist. Diesmal steht ein Exploit aber noch aus.
Frust ist bei der ausgebildeten Ärztin, die sich erst seit 2019 im Zirkus der Rad-Profis bewegt, deswegen nicht auszumachen. Im Gegenteil. Das hat einerseits mit ihrem neuen Team SD Worx zu tun, anderseits mit ihrer eigenen Einstellung zum Beruf. «Ich fahre nun erstmals in einer grossen Mannschaft, die viele Erfolge feiert. Und es gefällt mir sehr, alles ist super organisiert und trotzdem locker. Ich lerne hier sehr viel – genau das war mein grosses Ziel, als ich hier unterschrieb. Es fägt!»
Tatsächlich zeigt Reusser keineswegs eine schlechte Saison. Gleich mehrmals war sie entscheidend daran beteiligt, dass ihre Teamkolleginnen Rennen gewinnen konnten. So zum Beispiel bei der Flandern-Rundfahrt, als sie den Weg zum Sieg der Belgierin Lotte Kopecky (26) mit einem Angriff ebnete. Reusser wurde am Ende Fünfte – sie hatte sich für Kopecky geopfert. «Ich bin nicht so verbissen aufs Gewinnen, sondern freue mich sehr für andere. Vielleicht ist das schlecht. Aber mir geht es gut. Der Prozess, das Training, das Tüfteln, das Zusammensein – dieses Leben taugt mir», sagt sie.
Reusser wäre woanders die Nummer 1
Reusser hätte im Frühjahr das eine oder andere Mal gewinnen können. «Ich gehöre zu jenen Fahrerinnen im Team, die fast immer geschützt sind. Ich darf also meine Karten ausspielen. Aber ich definiere Erfolg nicht nur anhand des Schlussklassements», sagt sie. Allein ihre Teamwahl zum Ende der letzten Saison war bereits Ausdruck davon: Reusser hätte woanders die klare und einzige Nummer 1 sein können. «Es gab viele Mannschaften, in denen ich alleinige Leaderin gewesen wäre. Das wollte ich bewusst nicht, weil ich hinschauen und lernen will. Nun erhalte ich die Quittung dafür.»
Für die ehemalige Präsidentin der Jungen Grünen sind Siege schön, aber nicht das Wichtigste. «Wenn ich gewinne, umso cooler. Aber wie kompromisslos ich das suchen möchte, ist mir noch nicht klar», sagt Reusser.
Fakt ist auch: Ihre besten Rennen kommen noch, die Rundfahrten und die Zeitfahren. Vielleicht bekommt Reusser dann einige Antworten.