Als Rad-Profi hat Stefan Küng schon fast alles erlebt. Er gewann 28 Rennen, wurde von einem Auto überfahren und schenkte seinem belgischen Fanclub Bier aus. Was nach der Tour de Suisse 2022 geschah, traf aber auch ihn unvorbereitet – und veränderte sein Leben. Ehefrau Céline brachte Sohn Noé zur Welt – heute ist er zehn Monate alt.
«Zuerst waren wir einfach froh, dass alles gut ging. Zehn Finger, zehn Zehen, er war gesund. Längst erlebe ich jeden Tag wunderbare Momente, wenn ich sehe, wie er lacht», sagt Küng. Céline ergänzt: «Es ist etwas mega Schönes, das wir erleben dürfen. Es fehlte uns schon vorher an nichts, dennoch ist Noé unser grösstes Glück.»
Die Geburt ihres ersten Kindes war nicht nur schön, sondern auch äusserst turbulent. Wir treffen die junge Familie in der Altstadt Frauenfelds, ganz in der Nähe ihres Hauses. Küng blickt zurück: «Ich rechnete jeden Tag damit, die Tour de Suisse Knall auf Fall zu verlassen. Noé wartete aber, bis sie fertig war. Zwei Stunden, nachdem ich zu Hause angekommen war, fingen Célines Wehen an. Wir gingen spazieren. Ich war völlig kaputt, konnte mir aber nichts anmerken lassen, denn ich wollte für sie da sein.»
Irgendwann scheitert Küng mit seinem Unterfangen, seine Erschöpfung zu vertuschen. «Ich habe Céline gesagt, dass sie weiter gerne hin- und herlaufen könne, ich mich aber auf ein Bänkchen setzen müsse», meint er schmunzelnd.
Corona sperrte Küng aus
Vierzig Stunden vergehen, dann ist Noé da. Während Céline vom Kreisssaal in ein Familienzimmer gebracht wird, verabschiedet sich Küng, um rasch für eine Dusche nach Hause zu gehen. «Wir wohnen schliesslich gleich neben dem Spital», so Céline. Ein unerwartetes Problem folgt auf dem Fuss. Denn: Der Captain des Teams Groupama-FDJ ist nicht nur todmüde – nein, es geht ihm auch immer schlechter.
«Ich habe einen Corona-Test gemacht, so wie schon vor der Geburt. Doch diesmal war er positiv», so Küng. Die Folge? Drei Tage lang darf er seine Liebsten nicht mehr besuchen. «Durch unser Fenster habe ich sie im Spital gesehen, durfte aber nicht hin. Das war hart. Aber letztlich sind wir einfach froh, dass alles gut gelaufen ist.»
Zurück zum Spaziergang. Vor dem Schloss Frauenfeld wacht Noé auf, er hat seinen Nuggi verloren. «Er ist sehr pflegeleicht und hat uns bislang keine grossen Probleme gemacht, weil er beispielsweise zu wenig essen oder trinken würde», so Céline.
Genau deshalb entschied sich Küng im letzten Sommer, kurz nach der Tour de Suisse auch zur Tour de France zu starten. «Das Abschiednehmen war nicht so schlimm, doch nach zwei Tagen habe ich mich jeweils schon gefragt, was Céline und Noé gerade tun. Auch heute telefonieren wir jeden Tag mehrmals und brauchen auch Facetime.»
Es habe auch Tage gegeben, bei denen er sich in ruhigen Rennphasen dabei ertappt habe, wie er an seine Familie dachte. «Dass sie mich dann bei der Tour-Etappe nach Lausanne besucht haben, war besonders schön», so Küng.
«Habe nicht mehr Angst als früher»
Doch inwiefern hat das Papi-Dasein sein Leben als Rad-Profi verändert? «Ich habe kein Problem mit dem Risiko und habe nicht mehr Angst als früher. Auch Abstriche muss ich keine machen, meine Ambitionen sind genau gleich», betont Küng. Seine nächste grosse Herausforderung ist das Auftakt-Zeitfahren des Giro d’Italia am 6. Mai – der Thurgauer will es gewinnen.
«Nur neben dem Sport hat sich alles zusammengekürzt. Früher ging ich einmal pro Woche zum Masseur, wenn ich daheim war. Jetzt fast gar nicht mehr, weil ich Zeit mit Céline und Noé verbringen will. Schlimm ist das aber nicht, im Gegenteil.»
Übrigens: Einen Veloanhänger haben sich die Küngs bereits zugelegt. Und auch ein E-Bike – es gehört Céline. «Aber ich habe es auch schon fürs Einkaufen gebraucht, denn wir wohnen am Hang. Und mit Noé wird es auf dem Rückweg sonst extrem anstrengend – da bin ich froh um die elektrische Unterstützung», verrät Küng.