Total 186 Nationen nehmen an den Olympischen Spielen in Paris teil. Von A wie Amerikanische Jungferninseln (3 Athleten) über U wie USA (598) bis Z wie Zentralafrikanische Republik (4). Die Schweiz hat 62 Frauen und 66 Männer am Start. Und Äthiopien? Immerhin 34. Die überwältigende Mehrheit sind Leichtathleten, das 123-Millionen-Land am Horn von Afrika hat eine grosse Tradition in den Laufdisziplinen. Haile Gebrselassie (51) ist der Berühmteste von allen, er holte zweimal Olympiagold (1996 und 2000) und stellte über die Langdistanz 26 Weltrekorde auf.
Hagos Welay Berhe (22) kann da nicht mithalten. «Ich rannte nicht, ich fuhr Velo», sagt er lachend. Mit 17 Jahren fing er an, nachdem er per Zufall in einem Café in Tigris Chris Froome (39, Gb) bei einem seiner vier Tour-de-France-Siegen am TV gesehen hatte. «Die Fans, die Töffs, das Rennen – alles faszinierte mich. Da habe ich mir gesagt: ‹Das will ich auch mal schaffen!› Heute bin ich Profi und mein Traum ist es, wie Froome eines Tages die Tour zu gewinnen.»
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Aufenthaltsstatus F reicht nicht
Der Profi des Teams Jayco Alula, für das auch der Zürcher Mauro Schmid (24) fährt, gilt im Peloton als ungeschliffener Diamant. Dennoch: Er hätte locker die Klasse, um Äthiopien im olympischen Strassenrennen von Paris zu vertreten. Aber er darf nicht. Warum? Welay ist staatenlos. Nicht erst seit heute, sondern seit 2020, als er kurz nach Beginn des äthiopischen Bürgerkriegs das Land verliess. Er zog nach Aigle VD, wo er ein Jahr zuvor im Centre Mondial du Cyclisme eine erste Velo-Ausbildung genossen hatte.
Welay hat in der Schweiz den Aufenthaltsstatus F. «F steht für vorläufig», witzelt Marcello Albasini. Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Der Ex-Nati-Trainer der Schweiz betreut und hilft Welay, wo immer er kann – auf und neben dem Velo. Seine Hilfe hat der 1,70 m grosse und 59 Kilo leichte Bergfahrer bitter nötig.
Denn: Welay gilt als ein nicht anerkannter Flüchtling. Einen Asylantrag kann er nicht stellen. Nicht einmal im offiziellen olympischen Flüchtlings-Team («Refugee Team»), in dem in Paris unter anderem der Schweizer 10’000-Meter-Europameister Dominic Lobalu (25) aufläuft, darf Welay ran. «Das tut weh, denn die Olympischen Spiele sind etwas vom Grössten überhaupt», sagt er. Dennoch: Welay hat zuletzt Schlimmeres durchgemacht, als dass ihn eine verpasste Olympia-Teilnahme in eine Depression stürzen würde. Weshalb?
Der Krieg tobt nicht mehr, aber...
Wir treffen Welay im Herzen des Thurgaus. Genauer: Im Haus von Albasini in Lanternswil. Vor idyllischer Kulisse, umgeben von Apfelbäumen voller Früchte, erzählt er: «Ich habe meine Familie seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Ich vermisse sie so sehr. Aber ich kann nicht einfach nach Hause.» Denn im vom Krieg gebeutelten Äthiopien, das schon Hunderttausende Tote beklagen musste, würde er entweder sofort ins Militär eingezogen oder umgebracht – so berichtet es Welay.
Was ihm bleibt, sind Telefon- oder Video-Anrufe mit seinen Liebsten. Doch nicht einmal die funktionieren immer. «Derzeit herrscht Waffenstillstand, aber die Infrastruktur in meiner Heimat ist miserabel», so Welay. Immerhin: Eltern und Geschwister, die in Dogu’a Tembien leben, seien wohlauf. Das gibt ihm, der als Kind Schuhe putzte und Brot buk und verkaufte, eine innere Ruhe.
Am liebsten isst er Raclette
Welay fühlt sich wohl in seiner Wahlheimat Schweiz. «Am liebsten esse ich Raclette», sagt er in gebrochenem Deutsch und strahlt – er übt die Sprache fleissig. Im Thurgau seien alle sehr nett, sie würden ihn stets grüssen und auch mit ihm plaudern. «Mein Traum wäre es, während der Saison in der Schweiz zu wohnen und im Winter meine Familie zu besuchen. Vielleicht könnten sie ja auch mal hierherkommen – dann könnte ich ihnen zeigen, wie schön die Schweiz ist.»
Albasini hofft, dass sein Schützling bald Asyl erhält. «Hagos hat nicht nur einen grossen Motor am Berg, sondern auch ein grosses Herz. Solange ich helfen kann, helfe ich», sagt er. Dass dies keine leeren Floskeln sind, zeigt eine Episode des letzten Herbsts eindrücklich. Welay war mit dem Flugzeug unterwegs für ein Rennen in der Türkei.
Weil seine Papiere den Behörden in Istanbul aber nicht genügten, wird er noch am Flughafen eingebuchtet. «Sie nahmen mir alles weg, auch Portemonnaie und Handy. Ich musste mich ausziehen und war nackt in einer Zelle mit anderen Gefangenen.»
Nackt in einem türkischen Gefängnis
Er konnte mit niemandem reden – einige verstanden kein Englisch, andere wollten es nicht verstehen. «Auch telefonieren durfte ich nicht. Ganz ehrlich, da bekam ich es mit der Angst zu tun. Hätten sie mich nach Äthiopien abgeschoben, wäre ich wohl getötet worden.» Dann, nach einer schlaflosen Nacht, die Erlösung: Welay darf doch ein Telefonat machen. Er ruft seinen «Papa», wie er Albasini nennt, an. Dieser nimmt sich der Sache sofort an. «Zum Glück kenne ich Leute in der Türkei – sie haben uns geholfen. Hagos wurde aus dem Gefängnis entlassen und flog zurück in die Schweiz.»
Noch heute denke er ab und zu an jene bangen Momente zurück, so Welay. Zum Beispiel dann, wenn er bei einem steilen Anstieg stark leidet – auf einmal sind dann die Schmerzen einfacher zu ertragen. «Ich bin überzeugt, dass Gott für mich diesen Weg aus einem bestimmten Grund gewählt hat», sagt er. Beklagen will er sich jedenfalls nicht, auch Mitleid sei fehl am Platz. «Aber es wird schon wehtun, die Rennen in Paris am TV zu verfolgen», sagt er. Albasini macht ihm derweil Mut: «Hagos, 2026 in Los Angeles bist du dann ganz sicher dabei!»
Für die Schweiz fahren? «Warum nicht?»
Tatsächlich trauen Insider Welay eine gute Karriere zu. Die Werte, die er am Berg drückt, sind beeindruckend. Könnte er sich sogar vorstellen, künftig für die Schweiz zu fahren? So wie Lobalu bei der EM – der Läufer stammt aus dem Südsudan, ist ebenfalls staatenlos. Auch Marathon-Ass Tadesse Abraham läuft schliesslich für die Schweiz, obwohl er in Eritrea zur Welt kam. «Warum nicht?», entgegnet Welay. Die Schweiz habe ihm viel ermöglicht und er würde gerne etwas zurückgeben. «Eines Tages den Schweizer Pass zu haben und mit dem Schweizer Kreuz bei einem Grossanlass anzutreten, wäre grossartig. Ich weiss aber, dass der Weg dahin noch lang ist», sagt er.
Nach eineinhalb Stunden mit Fotos und einem spannenden Gespräch ist es so weit: Welay macht sich für sein fünfstündiges Training bereit. «Fahr in Richtung Schaffhausen, dort regnet es nicht», sagt Albasini. Welay nickt. Bevor er in die Pedale tritt, ruft er uns zu: «Danke!» Dies sei sein Lieblingswort auf Deutsch, verriet er uns kurz davor.