Ihr Freund und Trainer Hendrik Werner verrät
Darum hat Marlen Reusser wirklich aufgegeben

Kaum einer kennt Marlen Reusser so gut wie Hendrik Werner: Ihr Trainer und Freund erklärt, was am Donnerstag genau passiert ist, welche Fern-Diagnosen falsch sind und was sie so einzigartig macht.
Publiziert: 12.08.2023 um 15:59 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2023 um 10:33 Uhr
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Da war die Welt noch in Ordnung: Marlen Reusser zu Beginn des WM-Zeitfahrens am Donnerstag.
Foto: Getty Images
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Daniel LeuStv. Sportchef

Herr Werner, wie haben Sie die Aufgabe von Marlen Reusser mitbekommen?
Hendrik Werner: Ich war im Zielbereich und schaute mir das Rennen auf der Grossleinwand an. Als Marlen auf einmal anhielt und vom Rad stieg, konnte ich wie alle anderen Zuschauer zuerst nicht verstehen, was hier gerade vor sich geht, denn es sah weder nach einem Defekt noch nach einem körperlichen Problem aus. Irgendwann wurde mir bewusst, dass etwas Anderes passiert sein musste.

Wann wussten Sie, was wirklich los war?
Irgendwann hatte ich Nationaltrainer Edi Telser am Telefon. Ich wollte natürlich zuerst wissen, wie es Marlen geht. Als er mir sagte, dass alles okay sei, war ich erleichtert. Wenig später konnte ich dann endlich auch mit Marlen reden.

Hat Sie Reussers Aufgabe und die Erklärung dahinter überrascht?
Nein, das war kein neues Thema, wir haben immer mal wieder über dieses Thema gesprochen.

Das ist Hendrik Werner

Der Deutsche ist seit 2021 der Trainer und Freund von Marlen Reusser. Der 40-Jährige war früher selber ein talentierter Radrennfahrer, hörte dann aber vorzeitig auf und wurde stattdessen Sportwissenschafter.

Heute ist Werner ein gefragter Rad-Trainer. Er begleitete unter anderem Tom Dumoulin an die Weltspitze und arbeitet heute für das Männer-Team von Bora-Hansgrohe.

Der Deutsche ist seit 2021 der Trainer und Freund von Marlen Reusser. Der 40-Jährige war früher selber ein talentierter Radrennfahrer, hörte dann aber vorzeitig auf und wurde stattdessen Sportwissenschafter.

Heute ist Werner ein gefragter Rad-Trainer. Er begleitete unter anderem Tom Dumoulin an die Weltspitze und arbeitet heute für das Männer-Team von Bora-Hansgrohe.

Für Aussenstehende ist Reussers Aufgabe nur sehr schwer nachzuvollziehen.
Genau das ist das Problem. Was Marlen am Donnerstag gemacht hat, war keine Kurzschlussreaktion. Das lässt sich nicht einfach in zwei, drei Sätzen erklären, und man kann nicht einfach ein Label drauf pappen und gut ist.

Können Sie trotzdem versuchen, es zu erklären?
Sportlerinnen und Sportler haben Ziele, Träume, Visionen. Sie stecken sich ein Ziel. Im Idealfall erreichen sie es. Dann wird es abgehakt und gleich das nächste Ziel gesteckt. Dabei wird zu wenig hinterfragt, ob ich das nächste Ziel überhaupt wirklich erreichen will oder ob ich es nur angehe, weil man das halt so macht.

Wie war es bei Reusser?
Vor der WM war von aussen betrachtet alles super. Sie hatte diese Saison grosse Erfolge gefeiert und sie ist eine Super-Zeitfahrerin. Ich bekam von aussen deshalb von allen Seiten zu hören: «Marlen war an Weltmeisterschaften schon oft knapp dran. Jetzt ist sie so in Form, jetzt wird es klappen.» Das stimmte auch: Alles passte.

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«Seit längerem schon braute sich etwas zusammen.»
Hendrik Werner, Trainer und Freund von Marlen Reusser
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Aber?
Ein Einzelzeitfahren ist ein dreiviertelstündiges Rendezvous mit deinem inneren Schweinehund. Am Ende gewinnt die, die es am härtesten will. Und das war an diesem Tag nicht sie.

Warum nicht?
Weil sie eben – rückblickend betrachtet – nicht zu 100 Prozent für dieses Rennen brannte. Im Vorfeld hat sie auch kaum über dieses WM-Zeitfahren gesprochen. Sie hat sinngemäss gesagt: «Das kommt ja auch noch.» Seit längerem schon braute sich etwas zusammen. Nach der Tour de Suisse gab es dann eine Krise, aus der sie sich – auch aus Pflichtgefühl – aufgerafft hatte. Für sie hätten da nun endlich Ferien kommen dürfen. Um ein WM-Zeitfahren zu machen, braucht man aber deutlich mehr als ein Aufraffen, man muss es ganz fest wollen. Trotzdem dachten wir: Oft kommt der Hunger ja auch erst mit dem Essen.

Und dann kam im Rennen der Hunger eben doch nicht?
Genau. Eigentlich lief alles nach Plan. Wir hatten abgemacht, dass sie es eher langsam angehen lässt und sie dann gegen hinten raus aufdreht. Als sie dann aber hätte aufdrehen sollen, wurde ihr klar, dass sie diesem Berg vor ihr nicht begegnen wollte. So etwas für andere oder dem Prinzip wegen zu tun, wird dem Anspruch oder dem Bild, das sie von einem WM-Zeitfahren hat, wahrscheinlich nicht gerecht. Es ist ein Alles-oder-Nichts-Ding.

Was ebenfalls einzigartig ist: Sie hat danach offen darüber geredet und keine Ausreden gesucht.
Das mag ich an ihr. Sie war in dem Moment, wie sie ist: ehrlich und authentisch. Sie hätte ja auch sagen können, der Rücken hat gezwickt. Aber nein, ihr war es wichtig, die Wahrheit zu sagen und versuchen zu erklären, warum sie diesen Schritt getan hat.

Ist das, was Reusser nun widerfahren ist, nicht ein typisches Problem im Spitzensport – immer höher, immer schneller, immer weiter?
Nicht nur der Sport, unsere ganze Gesellschaft funktioniert so. Immer heisst es: Tust du was, dann hast du was, dann bist du was. Das lernen schon die Kinder. Im Sport ist es ähnlich. Wenn eine Athletin einen grossen Erfolg feiert, denken die Aussenstehenden: geil, alles super! Aber es wird nicht hinterfragt, was danach kommt, denn es geht ja immer weiter. Man eilt von Ziel zu Ziel.

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«Manche ‹Diagnosen›, die am Tag danach durchs Internet geisterten, sind einfach falsch.»
Hendrik Werner, Trainer und Freund von Marlen Reusser
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Wie lässt sich das stoppen?
Indem man innehält, Erlebnisse sacken lässt und sich fragt: Was will ich jetzt? Will ich das nächste Ziel wirklich? Das lässt sich natürlich einfach sagen, ist aber schwierig umzusetzen, denn im Spitzensport gibt es viele Interessen, Sponsoren, Medien, Teams.

Wie geht es Marlen Reusser jetzt?
Ihr geht es gut. Die Stimmung am Abend nach der Aufgabe war zwar eher gedämpft, gleichzeitig war da aber auch eine Freude darüber, wie wir in solchen Momenten füreinander da sein können. Manche «Diagnosen», die am Tag danach durchs Internet geisterten, sind einfach falsch. Sie ist weder antriebslos noch niedergeschlagen, sondern lebensfroh, neugierig, begeisterungsfähig.

Ist diese Begeisterungsfähigkeit auch das, was Sie so sehr an ihr schätzen?
Ich habe schon mit vielen Sportlern zusammengearbeitet, aber Marlen ist aussergewöhnlich. Ihre Perspektive aufs Leben und ihre Wahrnehmung haben mich vom ersten Tag an inspiriert. Ich hatte vorher schon etliche Angebote von Radsportlern, die mich als Trainer verpflichten wollten, aber ich habe immer nein gesagt. Nur bei Marlen nicht, weil ich gleich gespürt habe, wie speziell sie ist. Ich habe diese Entscheidung bis heute noch keine Sekunde bereut.

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