Kann ein Stachel tiefer sitzen? Zwei Stunden braucht Stefan Bissegger (23), ehe er den Team-Bus fürs Interview verlässt. Kein Wunder, hat er doch kurz davor sein wichtigstes Saisonziel, das Auftakt-Zeitfahren der Tour de France, in den Sand gesetzt. Rang 99 mit 1:12 Minuten Rückstand. Tönt so brutal, wie es ist – zumal Bissegger als einer der Favoriten galt. Unumwunden gibt der Thurgauer zu: «Das ist die grösste Enttäuschung meines Lebens.»
Tatsächlich werden die 12,3 Kilometer in der Innenstadt Kopenhagens für Bissegger zum Alptraum. Auf nasser Fahrbahn rutscht ihm schon nach gut einer Minute erstmals das Hinterrad weg. Er rettet sich. Doch nur vier Zeigerumdrehungen später liegt er dann wirklich am Boden. «Danach habe ich nichts mehr riskiert – der Sieg war ja weg.» Stimmt. Bloss: Bissegger stürzt nach zehn Minuten gleich nochmals. «Dabei war ich so langsam, vom Gefühl her bin ich in dieser Kurve gelaufen», rätselt er.
Warum rutschte Bissegger weg?
Bisseggers Pannen werfen Fragen auf – zumal er als einer der technisch Besten gilt. Die erste These: Der just vor Bisseggers Start einsetzende Regen machte den Asphalt spiegelglatt. Bissegger dazu: «Die Strassen hier sind ziemlich schlecht. Und wenn es regnet, schwemmt es den Diesel und das Öl zusammen. Dazu kommen die Bemalungen der Fans. Nicht nur ich, sogar das Auto hinter mir ist offenbar weggerutscht – und das passiert nicht so häufig.» Auf die Frage, ob er lieber 20 Minuten später gestartet wäre, als es wie aus Kübeln schüttete, antwortet Bissegger vielsagend: «Die Strasse war dann wenigstens komplett nass.»
Tönt alles logisch. Bloss: Mathieu van der Poel (27, Ho), wie Bissegger einer der Favoriten, startete nur vier Minuten nach ihm, stürzte jedoch nicht und verlor bis ins Ziel nur 13 Sekunden auf Überraschungssieger Yves Lampaert (31, Be). Darum die zweite These: Bisseggers hatte die falschen Pneus. Oder deren Luftdruck war zu hoch, weil für trockene Verhältnisse eingestellt. «Wir werden das Material-Setup anschauen», sagt Bissegger. Oder hat er letztlich doch zu viel riskiert? Sein ehemaliger Trainer, Marcello Albasini, meint: «Ein Teammitglied hat mir gesagt, dass Stefan nichts falsch gemacht hat.»
Das einzig Positive ist: Bisseggers Prellungen an der Hüfte sind schmerzhaft, aber nicht gravierend. Die Seele tut mehr weh. «Ich dachte am Start, dies sei mein Tag. Und nun lief alles schief.»
Küng: «Im Kopf nicht bereit»
Im Gegensatz zu seinem Namensvetter erleidet Stefan Küng (28) kein Waterloo. Der 14. Platz mit 23 Sekunden Rückstand ist dennoch enttäuschend. «Physisch war ich parat, aber im Kopf nicht bereit, das letzte Risiko einzugehen», sagt er. Letztlich hätten der Stress der letzten zehn Tage mit der Geburt von Sohn Noé und der Corona-Erkrankung Spuren hinterlassen, gibt er zu. Was dazukam: «Ich sah Bissegger im TV stürzen. Und als ich ihn auf dem Weg zum Start kreuzte, meinte er: ‹Pass auf, die Strassen sind wie Seife!› Das hat mich mental blockiert.»
Trotz guten Gründen – am Ende bleibts beim doppelten Stefan-Frust in Kopenhagen. Der Tour-Start ist missglückt.