Belgien zeigt sich an diesem ersten Aprilwochenende von seiner garstigsten Seite. Der Wind peitscht Nieselregen über die gepflasterten flämischen Strassen. Das Thermometer schafft es gerade mal so über zehn Grad Celsius. Definitiv Wetter, um sich daheim auf dem Sofa unter einer dicken Decke zu verkriechen. Doch in der flämischen Stadt Oudenaarde wimmelt es am Freitagmorgen nur so von Rennrad-Enthusiasten. Zu Tausenden schwingen sie sich aufs Velo. Denn in Oudenaarde steht der Event des Jahres an: die Flandern-Rundfahrt.
Eine, die sich vom Wind und Regen kein bisschen die Laune trüben lässt, ist Marlen Reusser (31). Munter steigt die Bernerin am Freitag um 10:00 Uhr zusammen mit ihren Mitstreiterinnen vom Team SD Worx aufs Rennrad, um die Schlüsselstellen der insgesamt 157 Kilometer langen Strecke zu besichtigen. Blick heftet sich an ihr Hinterrad und begleitet sie auf die ikonische Route. Doch es zeigt sich schnell: Das ist einfacher gesagt als getan.
Höllische Hügel im flachen Flandern
Beim ersten Anstieg mit brutalen 20 Prozent Steigung und aalglattem Kopfsteinpflaster hängt Reusser die Begleitung im Auto schon mal ab. Die Strasse ist so steil und glitschig, dass die Autos die Anhöhe nicht hochkommen. Reusser lacht nur und schaltet für uns einen Gang runter. «Das kann ja lustig werden am Sonntag. Ich sehs kommen, hier schiebt das ganze Feld das Velo den Hügel hoch.» Oben angekommen, saust die Emmentalerin auch schon wieder davon übers ansonsten so flache Flandern. Weg ist sie.
Erst auf dem Schlussteil der Besichtigung kriegen wir Marlen Reusser noch mal zu Gesicht. Trotz einem krassen Aufstieg von erneut fast 18 Prozent Steigung plaudert sie munter mit Teamkolleginnen und hat sogar noch ein Lächeln für die Kamera drauf. Es dauert nur wenige Sekunden, bis die Vize-Weltmeisterin im Einzelzeitfahren auch schon wieder an Kamera und Mikrofon vorbeigerauscht ist.
Unerwarteter Triumph
Im Teamhotel treffen wir Marlen Reusser wenig später wieder, gestärkt und aufgewärmt. Wobei, wirklich kalt sei es ja nicht gewesen, findet die studierte Ärztin. «Belgien kann noch viel schlimmer sein!» Bei ihrem triumphalen Sieg bei Gent–Wevelgem vergangenen Sonntag zeigte das Thermometer noch weniger Grad Celsius an. Zudem schleppte Reusser seit Wochen eine lästige Erkältung mit sich umher. Und trotzdem fuhr sie praktisch solo zum Sieg.
Alles ist möglich
Das nächste Hoch könnte direkt folgen. Bei der prestigeträchtigen Ronde van Vlaanderen zählt Marlen Reusser zu den Favoritinnen.«Ich weiss, dass ich zu den absoluten Top-Fahrerinnen gehöre. Ich weiss, dass ich dieses Rennen gewinnen kann. Ich weiss aber auch, dass in einem Strassenrennen alles passieren kann. Vor Stürzen ist niemand sicher.»
Und dann sind da noch Reussers Teamkolleginnen. Während andere Teams meistens um eine Leaderfigur aufgebaut sind, haben im Team SD Worx gleich vier Fahrerinnen realistische Chancen auf den Sieg. Etwa die Lokalmatadorin Lotte Kopecky, die im radverrückten Belgien den Status eines Superstars hat. «Wir werden garantiert nicht nur für eine von uns fahren. Wir werden angreifen, Vollgas, und mit vier Karten unser Spiel spielen.» Das Resultat ihres Teams stellt Marlen Reusser im Interview an erste Stelle. Und doch lässt sie durchblicken – die Flandern-Rundfahrt, das ist ihr Ding. Und in diesem Jahr ist alles möglich.