Nicole Reist (38) ist zurück in ihrem Alltag. Rund einen Monat nach dem knapp zehntägigen Höllenritt quer durch die USA sitzt die Hochbautechnikerin im Büro und lässt das Geschehen noch einmal Revue passieren. 5000 Kilometer, 55'000 Höhenmeter und nur neun Stunden Schlaf. Willkommen beim Race Across America (RAAM), dem härtesten Radrennen der Welt.
Was braucht es, um diese Tortur zu überstehen? «Knallharte Disziplin.» Der Tagesablauf von Reist lässt daran keine Zweifel. Um 1.25 Uhr ist Tagwache. Fünf Minuten später beginnt das erste, rund dreistündige Training. Der Arbeitsbeginn ist auf 5.00 Uhr festgelegt. Knapp elf Stunden später ist ihre Schicht zu Ende, und die zweite mehrstündige Trainingseinheit steht an. Zwischen 19 und 20 Uhr gehts ab ins Bett. Freizeit? Gibt es kaum. Für Blick nimmt sich die Siegerin der Frauen-Kategorie eine halbe Stunde Zeit und erzählt ihre bizarrsten USA-Storys.
Das Race Across America (RAAM) ist das härteste und längste Ultracycling-Rennen der Welt: Über 4888 Kilometer und 55'000 Höhenmeter geht es von Oceanside in Kalifornien an der Westküste durch 12 Staaten nonstop bis nach Annapolis in Maryland an der Ostküste, nonstop. Am Start waren rund 150 Fahrer und Fahrerinnen, die in 2er-, 4er- oder 8er-Teams ins Rennen gingen. In den ersten 40 Austragungen konnten erst 37 Frauen das RAAM als Solo-Starterinnen beenden.
Das Race Across America (RAAM) ist das härteste und längste Ultracycling-Rennen der Welt: Über 4888 Kilometer und 55'000 Höhenmeter geht es von Oceanside in Kalifornien an der Westküste durch 12 Staaten nonstop bis nach Annapolis in Maryland an der Ostküste, nonstop. Am Start waren rund 150 Fahrer und Fahrerinnen, die in 2er-, 4er- oder 8er-Teams ins Rennen gingen. In den ersten 40 Austragungen konnten erst 37 Frauen das RAAM als Solo-Starterinnen beenden.
Kilometerweiter Fan-Wahnsinn
Immer wieder wurde Reist von am Strassenrand stehenden Fans lautstark unterstützt. Die Freude gewisser Zuschauer ging sogar so weit, dass sie der Extremsportlerin kilometerweit hinterhergefahren sind. «Wir wurden sie nicht mehr los», erzählt sie lachend. Die Amerikaner rüsteten sich sogar mit Schweizer Fahnen aus. «Diese Begeisterungsfähigkeit, die die Amis an den Tag legen, ist gigantisch.»
Reifen-Panne auf dem Tour-Dach
Und plötzlich war die Luft draussen. Der Reifen am Begleitauto machte schlapp und das ausgerechnet auf dem über 3000 Meter hohen Wolf Creek Pass, dem höchsten Punkt der Tour. «Es gibt kaum einen dümmeren Moment für eine Panne.» Um möglichst wenig Zeit zu verlieren, reagierte ihre Crew blitzartig. Ein gelernter Automechaniker liess das Problem verschwinden. «Immerhin war die Aussicht tadellos», scherzt die Zürcherin, die aufgrund des Tageslichts weiterfahren konnte.
Ein Polizist wird zum Edel-Helfer
«Er war ein völliger Freak.» Die Augen von Reist beginnen zu glänzen, als sie die Geschichte von einem Polizisten erzählt, der ihr Leben für eine kurze Zeit stark vereinfachte. Als der Regelhüter Wind von ihrem verrückten Vorhaben bekam, griff er zu einem unkonventionellen Mittel, um das Team zu unterstützen: «Er fuhr mit dem Auto voraus und sperrte die Strassen für uns ab. Inklusive Hupen und Blaulicht. Zu Beginn waren wir völlig schockiert.» Die Kreuzungen wurden derart lange blockiert, bis Reist mit ihrer Crew vorbeigefahren war. «Eine persönliche Polizei-Eskorte», erzählt die Zürcherin stolz. Erst als die Grenze seines Einsatzgebiets erreicht war, verabschiedete sich der Gesetzeshüter.
Wie lautet die Antwort auf die Stinktier-Frage?
In beängstigender Regelmässigkeit entdeckte die Extremradfahrerin tote Tiere am Strassenrand, die allesamt einem Auto zum Opfer fielen. Schreckliche Bilder, die die Freude über ein lebendiges Tier umso grösser werden liessen. «Als ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Stinktier sah, war ich euphorisiert und wollte dieses sogleich mitnehmen.» Die Crew musste Reist zur Vernunft bringen. Eine Frage lässt sie jedoch nicht los: «Stinkt ein Stinktier tatsächlich?» Würde einem die Antwort vom Tier persönlich gegeben, man dürfte sie in unangenehmer Erinnerung behalten.
Der Mensch gewordene «Rad-Lift»
Gleich zwei schwere Stürze hinterliessen bei Reist gröbere Spuren. Die Zürcherin war derart angeschlagen, dass sie nicht mehr aus eigener Kraft auf das Rad aufsteigen konnte. Da aufgeben keine Option war, musste eine Lösung her. «Wir hatten einen Eishockeyspieler im Team, der eine imposante Postur aufwies und mich dann auf den Sattel hob.» Der ausgebildete Rettungssanitäter wurde wenige Hundert Kilometer vor dem Ziel kurzerhand zum Mensch gewordenen «Rad-Lift» und durfte regelmässig seine Dienste verrichten. Mittlerweile ist sie zurück im Training und strebt eine Teilnahme an der Tortour Mitte August an, dem grössten mehrtägigen Nonstop-Ultracycling-Event der Welt.
Yoga-Stunde dank Flughafen-Ärger
«Das Abenteuer hätte nicht besser starten können», erzählt Reist und verdreht ihre Augen. Nach der Landung in den USA war ihr Gepäck nirgends auffindbar. Besonders ärgerlich: «Wir wussten nicht, wo die drei teuren Rennräder waren. Jedes kostete so viel wie ein Mittelklassewagen.» Weil bereits Abend war, fuhren sie ohne Gepäck in ihre Unterkunft. Am Folgetag wartete ihre Crew stundenlang am Flughafen. «Weil nichts geschah, haben sie kurzerhand eine Yogastunde einberufen.» Auch dank der meditativen Einheit verging die Zeit wie im Flug. Einige Zeit später war die Truppe mitsamt Gepäck startklar für ihre turbulente Reise quer durch Amerika.