Es ist eine der erschreckendsten Szenen des gesamten Sportjahres 2020. Im August ereignet sich bei der Polen-Rundfahrt ein fürchterlicher Crash. Der Radprofi Fabio Jakobsen wird von Konkurrent Dylan Groenewegen beim Zielsprint in die Absperrgitter gerempelt. Mit dem Kopf voran kracht er auf Metall. Jakobsen ringt mit dem Tod und gewinnt diesen Kampf. Verzeihen kann er aber deswegen noch lange nicht.
Nach den mehreren Knochenbrüchen und zwei Tagen im Koma befindet sich der Holländer auf dem Weg der Besserung. Das Gesicht ist vernarbt, die seelischen Wunden sind tief, wie er der holländischen Zeitung «AD» in seinem ersten Interview seit dem schicksalshaften Tag verrät.
Er sehe die Schuld am Unfall bei Groenewegen. «Ich bin nicht so aufgeschlossen, um zu sagen, dass er keine Schuld hat. Vor allem tut es mir leid. Leid für mich, für ihn, für unsere Teams.»
«Wir sind menschliche Wesen, keine Tiere»
Der 24-Jährige hat die TV-Bilder des Crashes gesehen. Und er kann nicht nachvollziehen, was seinen Gegner geritten hat. «Es ist schwer für mich zu verstehen, warum er das getan hat. Hat er mich nicht gesehen? Ist er zu viel Risiko eingegangen? Wollte er um jeden Preis gewinnen?», fragt sich Jakobsen. «Er hätte die Konsequenzen bedenken müssen. Wir sind menschliche Wesen, keine Tiere. Das ist ein Sport, kein Krieg, bei dem es keine Grenzen gibt.»
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Groenewegen habe bei ihm nach einem Treffen gefragt, beide hätten Nachrichten ausgetauscht. Und er könne durchaus verstehen, wie schwer der Vorfall auf der Seele des 27-Jährigen lastet. «Aber ich bin noch nicht bereit dazu. Zunächst möchte ich mehr darüber erfahren, wie mein Heilungsprozess voranschreitet. Je besser es mir geht, desto besser ist es für ihn.»
«Müssen das Sprinten im Kamikaze-Stil beenden»
Jakobsen ist aber klar der Meinung, dass sein Landsmann mit einer neunmonatigen Sperre zu gut weggekommen ist. Denn der Grossteil der Strafe fällt auf die Saisonpause. Viel mehr als zwei Monate verpasst Groenewegen nicht. «Man muss bedenken, dass er das Leben von jemandem riskiert hat, weil er so gefährlich gesprintet ist. Wir müssen das Sprinten im Kamikaze-Stil ohne Rücksicht auf andere Fahrer beenden», fordert Jakobsen. «Dieser Vorfall sollte als Präzedenzfall dienen: Der Nächste, der so etwas abzieht, wird für mindestens ein halbes Jahr gesperrt.»
Jakobsen glaubt, dass er es wieder ins Profifeld schaffen kann. Körperlich werde es wieder möglich sein, Rennen zu bestreiten. Und er denkt auch, dass er den Mut fassen wird, sprinten zu können. Im Moment ist er davon noch weit entfernt. Viel mehr bewege er sich aktuell im «Kaffeefahrttempo». (sme)