Der Giro d’Italia, die härteste Rundfahrt der Welt. Und wer sind die Top-Favoriten? Genau: ein Ex-Skispringer und ein Ex-Fussballer. Hier Primoz Roglic (33), dort Remco Evenepoel (23). Der Routinier aus Slowenien sprang 2007 zu WM-Gold bei den Junioren, das Rad-Wunderkind war als 15-Jähriger Captain der belgischen Fussball-Nati. «Ich will den Giro gewinnen», sagen sie beide. So oder so stellt man sich die Frage, wie es im hochprofessionellen Strassenradsport möglich ist, dass zwei Quereinsteiger so gut sein können – zumal sie davor keine Karriere auf zwei Rädern (Mountainbike, Quer oder Bahn) hingelegt hatten.
«Beide haben spezielle organische Voraussetzungen», sagt Beat Müller, Head of Performance bei Swiss Cycling. Er befasst sich seit Jahren mit der Erkennung und Rekrutierung von Talenten, die im Radsport gross herauskommen könnten. Was Müller meint? Einfach: Roglic und Evenepoel sind im Ausdauerbereich besonders gut. Das ist Voraussetzung, um im Strassenradsport zu reüssieren. Zur Messbarkeit des Ausdauer-Potenzials wird dabei meist der VO2-max-Wert herangezogen. Er zeigt auf, wie viel Sauerstoff der Körper eines Menschen unter Vollbelastung aufnehmen und verwerten kann. Je höher der VO2-max-Wert ist, desto besser. «Diese Fähigkeit beruht zum grossen Teil auf genetischen Voraussetzungen, man kann sie nur bedingt trainieren», erklärt Sport-Arzt Patrik Noack. Studien ergaben, dass beim Strassenradsport Durchschnittswerte zwischen 62 und 90 normal sind. Roglic und Evenepoel sollen Werte um 80 haben.
«Hat jemand einen grossen Motor, kann er es in verschiedenen Sportarten an die Spitze schaffen. Ein Ferrari bleibt ein Ferrari – auch dann, wenn er nur mit 30 km/h unterwegs ist», sagt Jan van Berkel (37). Der dreifache Ironman-Switzerland-Gewinner vermutet das Gleiche wie Müller und Noack. Was? Dass Roglic und Evenepoel nichts von ihrem riesigen Potenzial für den Radsport wussten, als sie noch von Schanzen sprangen respektive dem Ball hinterherjagten – sie waren schlummernde Riesen.
Es gibt auch Schweizer Beispiele
Allein sind die Giro-Favoriten mit ihrer speziellen Vergangenheit nicht. Im Peloton tummeln sich mittlerweile auch andere Quereinsteiger. Michael Woods (36, Ka) war Mittelstreckenläufer, Jason Osborne (29, De) wurde Ruder-Weltmeister, und Anton Palzer (30, De) zählte während einem Jahrzehnt zu den besten Skibergsteigern der Welt. Auch in der Schweiz gibt es Beispiele: Stefan Küng (28) kommt vom Bahnradsport, Mauro Schmid (24) fuhr früher oft Quer, und Filippo Colombo (24) ist mittlerweile nicht mehr nur auf dem Mountainbike, sondern auch auf dem Strassenrad aktiv.
Mehr Radsport
Es geht aber auch spektakulärer. So machte Gent-Wevelgem-Siegerin Marlen Reusser (31) früher Leichtathletik, und Matteo Badilatti (30) bestritt als Amateur Langlaufrennen. Er meint: «Ich finde es sehr positiv, wenn man als Kind und Jugendlicher verschiedene Dinge ausprobiert. Man hat andere Stimuli und entwickelt Fähigkeiten, die man sonst nicht hätte.»
«Zuerst den falschen Sport gewählt»
Swiss Cycling befürwortet die polysportive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig versucht man, versteckte Talente zu finden. Müller: «Auf über 30 Teststrecken in der ganzen Schweiz kann man kostenlos seinen V2O-max-Wert ohne Aufwand errechnen. Man muss nur seine Zeit auf dem Rad stoppen und diese im Verhältnis zum Gewicht stellen. Eine einfache Rechnung. Wer will, kann uns seinen Wert anonym schicken. Wir versuchen so, in anderen Sportarten Talente für den Radsport zu entdecken.» Fakt ist: Eine Garantie für eine grosse Radkarriere ist ein hoher V2O-Max-Wert keinesfalls. Technik, taktisches Verständnis, Motivation – viele Faktoren spielen mit.
Im Fall von Roglic war es letztlich Zufall, dass er den Weg zum Radsport fand – er stürzte schwer und wandte sich vom Skispringen ab. «Primoz hat zuerst den falschen Sport gewählt. In seinem Dorf werden die Jungs fast alle Skispringer, also hat er das auch so gemacht», sagte sein einstiger Team-Boss Bogdan Fink. Und bei Evenepoel? «Ich hatte einfach keine Lust mehr auf Fussball», meinte er einmal.