Es ist ein Bild für die Geschichtsbücher des Schweizer Sports. Am Donnerstag während des WM-Zeitfahrens schüttelt Marlen Reusser (31) auf einmal den Kopf. Dann bremst sie plötzlich ab, hält an, steigt vom Rad und setzt sich in die Wiese. Dort sitzt sie minutenlang. Gedankenversunken, weinend, getröstet von Nationaltrainer Edi Telser. Wenige Stunden später erklärt sie sich: «Ich hatte keinen Bock und habe dann einfach gestoppt!»
Was für eine unorthodoxe und überraschende Entscheidung. Es ist nicht die erste in ihrem Leben, denn Reusser lässt sich in keine Schablone pressen. Schon 2019 sorgt sie mit einem radikalen Schnitt für Aufsehen.
Sie ist damals 27 Jahre alt, hatte zuvor für die Jungen Grünen als Nationalrätin kandidiert, arbeitet Teilzeit als Assistenzärztin und ist Amateursportlerin. Ein erfülltes, erfolgreiches Leben.
Doch die Faszination Radsport lässt die Bernerin nicht los. Will sie dort aber an die Weltspitze kommen und ihren Traum von Olympia in Tokio 2020 verwirklichen, muss sie etwas ändern. Deshalb kündigt sie kurzerhand ihren sicheren Job und zieht aus finanziellen Gründen mit 27 wieder zu Hause bei ihren Eltern ein. «Um mit der Weltspitze mithalten zu können, musste das sein. Beides nebeneinander ging nicht mehr», sagt sie damals.
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Ihr Plan geht zuerst nicht auf. Wegen Corona. Gehadert wird trotzdem nicht, von Selbstmitleid keine Spur. «Für Sportler, die jetzt jammern, fehlt mir das Verständnis. Die Gesundheit ist das Wichtigste. Da ist es doch egal, wenn Wettkämpfe gestrichen werden.»
Keine Angst vor Häme
Wie wichtig die Gesundheit ist, erfuhr sie 2018 am eigenen Leibe. Damals stürzte sie während eines Rennens schwer. Sie brach sich den fünften Lendenwirbel und das Becken und spürte zeitweise ihre Füsse nicht mehr, weil sie Lähmungserscheinungen hatte. «Zum Glück habe ich das selber nicht so schlimm erlebt. Ich wurde gleich mit starken Schmerzmitteln entlastet. Erst im Nachhinein dachte ich: Das hätte in die Hosen gehen können.»
Was sich im Nachhinein auch sagen lässt: Ihr Entscheid, voll auf die Karte Radsport zu setzen, zahlt sich aus. Innert weniger Jahre wird aus der Amateursportlerin eine Profi-Siegesfahrerin. Sie gewinnt an den Olympischen Spielen, die dann wegen Corona um ein Jahr verschoben werden, Silber. Sie triumphiert zweimal an den Europameisterschaften. Holt zweimal WM-Gold mit der Mixed-Staffel. Wird zweimal Zweite an einem WM-Zeitfahren. Ist die Gesamtsiegerin der diesjährigen Tour de Suisse.
Wieder ein auf den ersten Blick erfülltes, erfolgreiches Leben. Dass dieses Bild in der Öffentlichkeit aber nicht immer vollends mit ihrem Inneren korrespondiert, zeigt sich für Aussenstehende am Donnerstag. Deshalb fällt sie einmal mehr in ihrem Leben eine unorthodoxe Entscheidung, indem sie freiwillig vom Rad steigt. Sie hört dabei nur auf sich. Hat keine Angst vor hämischen Kommentaren oder finanziellen Konsequenzen.
Reussers Erklärung klingt aus ihrer Sicht nachvollziehbar: «Ich brauche Raum, um mal wieder etwas anderes zu machen. Um mich zu freuen, was alles passiert ist, um auch wieder Hunger zu bekommen auf das, was noch kommt. Ich bin sicher, ich will weitermachen. Ich habe noch lange nicht genug vom Velofahren.»
Sie geht auch mit Widersprüchen offen um
Janine Geigele hat in ihrer Vergangenheit als Sportmoderatorin und heute als Managerin schon viele Sportlerinnen und Sportler erlebt. Keine war bisher nur annähernd so wie Marlen Reusser, die sie seit 2021 betreut. «Marlen ist so anders und hinterfragt vieles», erzählt Geigele, «und sie interessiert sich extrem für den Menschen. Sie fragt mich immer, wie es mir geht. Aber nicht, weil man das so macht, sondern weil es sie wirklich interessiert.»
Ein Beispiel sei besonders typisch für Marlen, sagt Geigele. «Als wir einen Sponsor für sie fanden, sagte sie im Gegensatz zu anderen Sportlern nicht einfach: ‹Cool, das machen wir.› Sie hat alles hinterleuchtet und ganz genau geschaut, ob die Werte des Sponsors mit ihren eigenen übereinstimmen. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte sie es nicht gemacht. Das ist fordernd, aber sehr konsequent.»
Auch mit den Widersprüchen in ihrem Leben geht Vegetarierin Reusser offen um. Als Radrennprofi muss sie gelegentlich das Flugzeug nehmen, dies widerspricht aber eigentlich ihren Werten. Was dagegen tun? Sie redet in der Öffentlichkeit über dieses Dilemma und geht dieser Diskussion nicht aus dem Weg. Sie war es auch, die einst offen über das Tabuthema Essstörungen im Frauenradsport geredet hat.
Diese Ehrlichkeit scheint viele zu begeistern. Geigele: «Ich habe nach ihrer Aufgabe am Donnerstag innert weniger Stunden 60 Mails bekommen, 58 davon waren positiv. Ich habe halbe Romane erhalten, in denen Leute schrieben, dass Marlen mit ihrer unkonventionellen Art ein Vorbild sei.»