Als Marlen Reusser beim WM-Zeitfahren am Donnerstag vom Velo stieg, ahnte sie nicht, welche Dimension ihre Rennaufgabe annehmen würde. Ein Moment des Kopfschüttelns, das Abbremsen, der Stillstand – und schon gab es kein Zurück mehr. Unmöglich, in diesen Sekunden an all jene zu denken, die durch ihre Aktion enttäuscht werden. Der Moment, mitten in einem der wichtigsten Rennen der Saison das Rad hinzustellen, war von Reusser nicht optimal gewählt. Alles andere ist stark.
Während die Beobachter im schottischen Stirling, dem Ort des Geschehens, darauf hofften, eine kurze Erklärung für die anfänglich mysteriöse Aufgabe zu erhalten, entschloss sich Reusser, richtig hinzustehen. Am gleichen Abend deckte sie in einem zehnminütigen Interview mit SRF die ganzen Hintergründe ihrer unkonventionellen Aktion auf. Es wird klar, dass ihr Rad zum Hamsterrad geworden ist, weil es pausenlos von Grossanlass zu Grossanlass geht. «Und das seit Jahren», sagt sie selber. Viel Verständnis macht sich nach den beeindruckenden Aussagen breit.
Aber Reusser zweifelt bereits im Interview daran, ob ihre Aktion gut ist. Nicht ihrer selbst wegen, sondern wegen den anderen. Sie spricht von der Kritik, die in ihrem Kopf losgehe, weil sie so privilegiert sei, weil andere so viel für ihren Erfolg tun. Einer von ihnen ist Nationaltrainer Edi Telser. «Unser Staff hier stellt sich von frühmorgens bis spätabends in den Dienst unserer Athletinnen und Athleten. Wenn dann eine Athletin auf dem Weg zu einem Medaillengewinn aufgibt, fühlt sich das komisch an», sagt er.
Telser ist aber auch der Erste, der die in Tränen aufgelöste Reusser am Strassenrand tröstet. Er ist der Erste, der sie in Schutz nimmt. Das hat sich Reusser verdient. Denn nicht nur ihre Ehrlichkeit nach dem Rennen ist stark, sondern auch ihre Botschaft. Was bringen Erfolge, wenn man sie nicht setzen lassen kann? Warum strebt man überhaupt den nächsten Erfolg an, wenn man ihn dann sowieso sofort wieder abhaken und weiter gehen muss? Für die Gesundheit ist es essenziell, Pausen zu haben und nicht dauerhaft im Stress zu sein.
Deshalb ist es eine wichtige Botschaft, in der schnelllebigen Welt einfach mal vom Rad zu steigen. Sich 16 Kilometer weiter ins Ziel zu kämpfen und dann ihr Rad für eine genügend lange Pause in die Ecke zu stellen, wäre für viele, die sich für Reusser einsetzen, noch nachvollziehbarer gewesen. Dann wäre die Botschaft der besten Schweizer Strassenradfahrerin nicht nur stark, sondern perfekt gewesen.
Ob sie dann auch so klar gehört worden wäre, wie es jetzt der Fall ist? Das ist wieder eine andere Frage.