«Da wird man süchtig»
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Fan-Spektakel Alpe d'Huez:«Da wird man süchtig»

21 Kurven, ein Gladiator und Oranje-René an der Tour de France
Der Mythos um den Aufstieg zur Alpe d'Huez

Zum 31. Mal endet eine Tour-Etappe auf der Alpe d'Huez. Wer gewinnt? Für die Fans am Strassenrand ist das nicht entscheidend. Sie geniessen das Ambiente lange vor dem Rennen.
Publiziert: 14.07.2022 um 11:00 Uhr
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Die Alpe d'Huez. Ein legendärer Anstieg. Es sind vor allem die Personen, welche ihn aufleben lassen.
Foto: Sven Thomann
Mathias Germann (Text) und Sven Thomann (Fotos)

Es gibt viel Bier und viele Fahnen. Und ja, auch viele Bierfahnen. Einen Tag vor der Bergankunft auf der legendären Alpe d’Huez wärmen sich die Rad-Fans in der Freiluftarena auf. Kaum ein Zentimeter des 13,8 Kilometer langen Anstiegs ist noch frei. Wohnmobile, Zelte, Autos und Rennräder säumen den Strassenrand. Davor wird gebrätelt, getrunken, gefeiert – Vorfreude ist schliesslich die schönste Freude.

«Kehren des Teufels» werden die 21 Kurven, die von Le Bourg d’Oisons nach Alpe d’Huez führen, genannt. Es geht von 718 auf 1850 Meter über Meer. Die durchschnittliche Steigung: 8 Prozent. Furchterregend ist dies für die Rad-Profis nicht, es gibt deutlich härtere Berge. Und dennoch ist kein Anstieg so berühmt wie dieser. «Das hier ist ein Mythos, einfach unbeschreiblich. 500'000 Fans am Berg, alles voll. Ich krieg schon jetzt Hühnerhaut», sagt Hitsch. Der Bündner ist zum dritten Mal dabei – er übernachtet, isst, trinkt und steht immer in Kurve 21, der ersten des Anstiegs. Dazu muss man wissen: Es wird rückwärts gezählt bis Kurve 1 kurz vor dem Ziel, wobei in jeder Kehre eine Plakette mit einem oder zwei ehemaligen Siegern aufgehängt ist.

Herbert brauchte 1:22 Stunden

Nur hundert Meter weiter sind Deutschland-Flaggen an einem Wohnmobil aufgehängt. Davor sitzt Herbert vor einem kleinen Fernseher. Er sieht, wie Tour-Dominator Tadej Pogacar (23) gerade einbricht. Eine Sensation. Doch der Mann mit dem grauen Bart bleibt ruhig. Wer schon 23 Frankreich-Rundfahrten am Strassenrand erlebt hat, den kann so schnell nichts erschüttern. «1988 war es am speziellsten. Da fuhr ich vor dem Frühstück hoch und brauchte 1:22 Stunden. Darauf bin ich stolz», erzählt er.

Die Bestzeit für den Aufstieg hält übrigens Marco Pantani mit 36:40 Minuten – «Il Pirata» gewann 1995 und 1997. War er gedopt? Gut möglich. Pantani nahm sich mit einer Überdosis Kokain vor 18 Jahren das Leben.

«Gladiator» Alois löst sein Versprechen ein

Die Strasse steigt weiter an. Mike hat einen Farbroller in der Hand, er malt «Oscar» auf die Strasse – so heisst sein Sohn. Kehre 14 ist Beat Breu, dem einzigen Schweizer Sieger (1982), gewidmet. «Wenn die Profis am Donnerstag dort vorbeifahren, nehme ich vor dem TV einen Schluck Bier», hat er am Telefon angekündigt.

Schweizer treffen wir in der Breu-Kurve nicht. Dafür Alois aus Österreich, 75-jährig. Er sitzt in einer Gladiator-Ausrüstung auf dem Velo. Warum? «Mein Bruder trug beim Fasching dieses Kostüm. Ich habe ihm gesagt, dass ich einst die Alpe d’Huez damit hochfahre. Nun ist er gestorben, und ich löse mein Versprechen ein.»

Orange dominiert in Kurve 7

Von weitem sichtbar ist schon bald die kleine Kirche beim «Dutch Corner». Weshalb die Kurve 7 so genannt wird? Erstens: Ein holländischer Priester errichtete die Kirche in den 60ern. Zweitens gewannen die Holländer 8 der ersten 14 Bergankünfte auf der Alpe d’Huez – verrückt für ein so ebenes Land. René aus Amsterdam ist zum zweiten Mal dabei. Sein Oberkörper ist so braun gebrannt, dass man seine Tattoos kaum erkennt. «Nach einer Stunde kannte ich hier jeden», sagt er lachend.

So geht es weiter die Serpentinen hoch. Wir feuern einen Gümmeler mit Asterix-Helm an, reden mit Swejn, einem Norweger mit Wikinger-Hörnern («Wir feuern jeden an, egal ob Profi oder Amateur») und hören die Klagen Adriens («Wir Franzosen warten seit 1985 auf einen Tour-Gesamtsieger»).

Im Ziel angekommen, sind wir überzeugt: Es sind nicht die 21 Kurven, die den Anstieg zur Alpe d'Huez so interessant machen – sondern vielmehr die Menschen, die diesen Mythos des Radsports zum Leben erwecken.

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