«Bei gewissen Bildern zucke ich zusammen»
Blick-Paralympics-Experte Lukas Christen öffnet sein Herz

Wenn Lukas Christen die Wettkämpfe von Paris verfolgt und bei Teilnehmern schwere Behinderungen sieht, zuckt er zuweilen zusammen. Der Blick-Experte für die Paralympics schildert in einer sehr persönlichen Kolumne seine Gedanken dazu.
Publiziert: 04.09.2024 um 16:50 Uhr
Blick-Experte Lukas Christen ist fünffacher Paralympics-Sieger.
Foto: PHILIPP SCHMIDLI | Fotografie
Lukas Christen

Es mag überraschen, dass ich als Direktbetroffener gestehen muss: Ja, bei gewissen Bildern zucke ich zusammen. Auch ich bin gelegentlich verunsichert, wenn ich Paralympioniken mit echt skurril anmutenden Handicaps sehe.

Nein, Mitleid kommt nie auf. Aber ich spüre, dass ich froh bin, «nur» oberschenkelamputiert zu sein. Mit Kleinwüchsigkeit, Tetraplegie oder spastischer Cerebral Parese hätte ich persönlich wohl mehr zu kämpfen.

Diesbezüglich muss ich selbst als Paralympics-Sieger weiter an meinem Entwicklungsprozess arbeiten. Und ja: Es gibt dafür kaum eine bessere Inspiration als die Paralympics.

Spitzensport war für mich eine Flucht

Athleten und Athletinnen mit schlimmen Handicaps zeigen, wie würdevoll und selbstverständlich man mit einer Behinderung umgehen kann. Ich sehe Begeisterung und Hingabe, trotz heftigen Einschränkungen. Das tut gut.

Aber: Braucht es dazu Spitzensport mit Spitzenleistung? Für mich war Spitzensport zu Beginn vor allem Flucht und Verdrängung. Es war ein wertvolles Ventil. Doch irgendwann musste ich lernen, mit meinem Handicap Frieden zu schliessen. Ab dann waren mein Paralympics-Gold und die Weltrekorde kein Schein-Triumph mehr, sondern Ausdruck eines Reifeprozesses.

Die Paralympics haben mich differenzieren gelernt

In der Zwischenzeit spüre ich bei einem Menschen, warum er Spitzenleistung sucht – auch im Job. Ist es eher Flucht und Verdrängung oder ist es vielmehr Passion und gesunde Hingabe? Die Paralympics haben mich differenzieren gelehrt.

Ironie der Sache: Die Spiele der Nichtbehinderten würde diesbezüglich auch viel Potenzial bieten. Zum Glück haben die Paralympics hinsichtlich latentem Narzissmus oder übertriebener Selbstdarstellung ihre Unschuld weitgehend behalten. Auch das zeigt mir den exklusiven Wert dieser Sportart und ich erkenne, dass ich eigentlich viel mehr bekommen habe als Goldmedaillen.

Lukas Christen (58) verlor mit 21 Jahren bei einem Töffunfall sein linkes Bein. Parallel zum Wirtschaftsstudium wurde er als Sprinter und Weitspringer zu einem der weltbesten Behindertensportler. Christen nahm 1992, 1996 und 2000 an den Paralympics teil und holte fünfmal Gold. Die Paralympics 2024 in Paris begleitet der Zentralschweizer als Blick-Experte. 

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