Grosse Worte, grosse Taten. Xeno Müller ist der Granit Xhaka des Ruderns. Nach den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona hat er angekündigt: «In Atlanta werde ich Olympiasieger!» In einer der härtesten Sportarten. Rudern, dazu Skiff. Allein im Boot. Da muss man Schmerzen aushalten und verdrängen können. Das Grossmaul Müller hat man damals in der Schweiz mit Argwohn begleitet. Zu selbstbewusst. Zu extrovertiert. Ein Sonderling. «Ich habe halt nie lange in der Schweiz gelebt. Ich habe keine Ahnung, wie man sich in der Schweiz verhalten soll oder verhalten muss», sagt Müller. Er wächst in der Schweiz, in Deutschland, in Spanien und in Frankreich auf. «Den Grundsatz ‹Go for Gold› habe ich von meinem Vater. Er hat immer gesagt: ‹Arbeite zehn Prozent härter als alle anderen, dann schaffst du es.› Und ich habe schnell gemerkt, dass der Sport die purste Form ist, um sich auszudrücken.» In Atlanta macht Xeno Müller Nägel mit Köpfen. Er liefert und wird Olympiasieger. Sein Vater kann es nicht mehr miterleben. Er stirbt 1992 an Krebs. «Ich hätte ihm noch viel erzählen wollen.» Xeno Müller lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern seit vielen Jahren in Kalifornien.
Blick: Xeno Müller, wie sieht Ihr Leben heute in Kalifornien aus?
Xeno Müller: Ich bin sauglücklich und danke jeden Tag meinen Sternen. Ich sitze jetzt im Garten und schaue in den Teich mit meinen Koi-Fischen. Neben mir liegen unsere Hunde. Ich habe eine Frau und vier gesunde Kinder. Ich schaue auch gut zu meiner Gesundheit und bin dankbar dafür, wie mein Leben hier in Südkalifornien läuft. Ich schaue auch, dass unser ökologischer Fussabdruck klein bleibt. Wir haben Solarenergie und elektrische Autos. Wir wollen helfen, der Welt gut zu schauen.
Die ältesten Ihrer vier Kinder sind bereits erwachsen. Werden Sie schon bald Grossvater?
Der Gedanke, Grossvater zu werden, ist für mich momentan eher weit weg. Ich rudere, mache Fitnessyoga, fahre mit meinem Sohn Tandem oder spaziere mit meiner Frau.
Und wie muss man sich den Alltag eines Ruder-Coaches in Newport Beach vorstellen?
Meistens coache ich online. Ich schreibe Trainingsprogramme oder helfe bei psychologischen Problemen. Das Rudern bestimmt immer noch meinen Tagesablauf. Ich coache die Athleten auch beim Training an den Rudermaschinen und im Wasser. Viele wollen durch das Rudern an Elite-Universitäten aufgenommen werden oder sogar die Olympischen Spiele erreichen.
Wie haben Sie als Wahlamerikaner den Wechsel von Donald Trump zu Joe Biden erlebt?
Die Ära von Trump war ein einziger Stress, im Gegensatz zu den ersten Monaten unter Biden. Trotzdem befinden sich die USA in einer gefährlichen Situation. Die Menschen sind wütend und gestresst. Es gibt nach wie vor extrem viele Waffenbesitzer. Das Steuersystem kreiert grosse Ungleichheiten. Die Stimmung ist explosiv, und das macht mir Angst. Und so geht es vielen Amerikanern.
Wie hat die Corona-Pandemie Ihr Leben verändert?
Wir als Familie kamen gut durch die Pandemie. Ich verlor meinen Job nicht und auch nicht unser Zuhause. Wir blieben unter uns, die Schule war online, die Esswaren wurden geliefert. Es wurden Masken getragen. Trotzdem sind wir jetzt glücklich, geimpft zu sein.
Wie sehr hat Sie der Olympiasieg von Atlanta geprägt?
Dieser Triumph ist natürlich immer präsent. Atlanta hat mein Leben und meine Zukunft als internationale Person massiv verändert. Mit einer olympischen Goldmedaille ist man ja plötzlich überall zu Hause, wenn es um die Ruderwelt geht. Das war ideal für mich. Ich bin ja in verschiedenen Ländern aufgewachsen, und so hat mir der Olympiasieg tolle Möglichkeiten eröffnet. Es ist noch heute meine Legitimation als Ruder-Coach. Mein Fachausweis sozusagen.
Jetzt kommen die Spiele von Tokio. Hat die olympische Idee in den letzten Jahren an Glanz und Faszination verloren?
Nein, das glaube ich nicht. Ich schaue ja vorwiegend das Rudern. Aber die Geschichten rund um die Athleten und ihre Exploits faszinieren mich immer noch. Ich glaube, das geht allen Menschen so. Olympia schreibt einfach emotionale Märchengeschichten. Aber die Paralympics sind ja noch viel faszinierender.
Inwiefern?
Man müsste viel mehr über die Paralympics berichten. Einige von diesen Sportlerinnen und Sportlern haben ja Schicksalsschläge erlebt, nach denen andere nicht wieder aufgestanden wären. Und darum geht es doch im Sport: Umfallen und wieder aufstehen. Kämpfen. Diese Menschen mit Einschränkungen stehen beispielhaft für den Sportsgeist. Die Teilnehmer der Olympischen Spiele sind harte Kämpfer. Die Teilnehmer der Paralympics sind superharte Kämpfer. Darum verstehe ich auch nicht, dass die Paralympics nicht in die normalen Olympischen Spiele integriert werden, sondern zwei Wochen später stattfinden. Das ist ein Mumpitz. Und dieses Wort habe ich hier in Kalifornien schon jahrelang nicht mehr in den Mund genommen.
Pflegen Sie noch Beziehungen zu anderen Sportlern, die Sie bei den Spielen in Atlanta oder Sydney kennengelernt haben?
Nach all den Jahren sind die Kontakte wenig geworden. Mit ein, zwei Ruder-Konkurrenten tausche ich mich ab und zu noch aus.
Wann sind Sie zuletzt in der Schweiz gewesen und wie ist die Beziehung zum Heimatland heute?
Mein letzter Besuch wird fünf Jahre her sein. Meine Schwester lebt ja in der Schweiz. Via Facebook habe ich natürlich mit alten Kollegen immer Kontakt.
Haben Sie in der Funktion als Rudertrainer den «neuen» Xeno Müller schon entdeckt?
2011 bis 2013 war ich Berater des mexikanischen Ruderverbands. Dort gab es einen Jungen, der mich stark an mich erinnert hat. Aber um an die Spitze zu kommen, muss alles zusammenpassen. Und bei ihm klappte es dann doch nicht. Mein Glück damals war, dass ich mit Harry Mahon und Marty Aitken die richtigen Trainer hatte.
Haben Sie den Aufschwung im Rudern in der Schweiz in den letzten Jahren mitverfolgt?
Natürlich, die Entwicklung ist toll. Die Schweizer Ruderer haben alle eine tolle Technik. Das sind noch heute Auswirkungen der Arbeit von Harry Mahon und Marty Aitken, die schon zu meiner Zeit das Rudern in der Schweiz in die richtigen Bahnen gelenkt haben.
Gibt es in Tokio Medaillen für die Schweizer Ruderer?
Eine konkrete Prognose will ich nicht machen. Aber ich spüre: Tokio wird gut werden für die Schweizer Ruderer.
Wie haben Sie die tolle EM der Schweizer Fussballer erlebt?
Ich finde es grossartig, dass sich die Schweiz im Fussball so gesteigert hat. Die Vielfalt macht den Schweizer Fussball stärker. Sie macht auch die Vereinigten Staaten stärker.
Wie wichtig war der Sport als Lebensschule für Sie generell?
Durchhalten. Immer wieder aufzustehen, immer vorwärtszuschauen, das habe ich alles beim Sport gelernt. Mein Alltag bestand einmal aus Training, Essen, erneutem Training und Schlafen. So ein Leben härtet ab. Man geniesst dann alles, was später noch kommt, viel intensiver. Es geht im Leben nicht darum, wie oft man hinfällt. Es geht darum, wie oft man aufsteht. Das lernt man im Sport.
Was hat Xeno Müller noch für Träume? Wo steht er in 20 Jahren?
Ich will für meine Familie stark sein. Ich werde auf mich Acht geben. Und auch sorgsam mit meinen Mitmenschen und der Erde umgehen. Ich möchte einen guten Einfluss auf die Zukunft haben. In 20 Jahren freue ich mich, nochmals 230 Jahre zu leben. Denn wir werden rudern, bis wir 300 Jahre alt sind!
Die 32. Olympischen Sommerspiele finden vom 23. Juli bis 8. August 2021 in der japanischen Hauptstadt Tokio statt. Alle Infos zur Eröffnung, Übertragung, Wettkampfterminen, Disziplinen, Neuerungen, Austragungsstätten und Maskottchen erfahren Sie in der grossen Übersicht.
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