Alessandra Keller (28) steckt in einem Dilemma. Der Schweizer Mountainbike-Hoffnung widerstrebt es eigentlich, das Olympiarennen vom Sonntag als einen aussergewöhnlichen Event anzuschauen. Ja gar, den Lauf als womöglich wichtigsten Auftritt der ganzen Karriere zu sehen. «Nüchtern betrachtet, ist es ein Rennen wie jedes andere», sagt die Nidwaldnerin. Aber nicht zuletzt mit den Erfahrungen der letzten Monate, mit der Selektion, der Einkleidung ins offizielle Olympiaoutfit und so weiter, merkte auch sie: «Olympia ist eine neue Dimension. Ich wurde nun auch daheim im Dorf schon von Menschen angesprochen, die mit Mountainbike sonst nichts am Hut haben.»
Keller und ihr Dilemma. Wird die Bedeutung von Olympia eigentlich künstlich überhöht – oder wäre eine Medaille in Paris vielleicht doch etwas Grösseres als alles, was sie bisher gewonnen hat?
Zuschauerin statt auf dem Traumpodest in Tokio
Ihre Hassliebe zu den Sommerspielen kommt nicht aus dem Nichts. Die Nidwaldnerin gibt in Paris mit bereits 28 Jahren ihr Olympiadebüt. Rio 2016 und vor allem Tokio 2021 verpasst zu haben, liess bei Keller die Leidenschaft für das olympische Cross-Country-Rennen zwischenzeitlich ziemlich abkühlen. «Die beiden Nichtselektionen haben mich als Athletin mega gefordert», sagt Keller. Vor Tokio wird Keller durch eine Knieverletzung Anfang Saison gebremst, doch von daheim mitverfolgen müssen, wie Jolanda Neff, Sina Frei und Linda Indergand das komplette Podest entern, nagen an ihr. Sie weiss genau: Da auf dem Tokio-Podest könnte auch sie selber stehen. Im Testrennen 2019 in Japan wurde sie Vierte.
Keller entwickelt nach dem Tokio-Trauma mit ihrem Umfeld einen Dreijahresplan. Sie dreht ihren Fokus vom ultimativen Ziel Olympiaqualifikation weg und sagt: «Ich suchte eine andere Perspektive. Mich hat motiviert, eine der besten Athletinnen der Welt zu werden. Denn wenn ich das schaffe, wird eine Olympiaselektion fast zwangsläufig auch kommen.»
Diese neue Form, mit ihrer Hassliebe zu den Spielen umzugehen, entpuppt sich als Volltreffer. Keller schafft den Durchbruch an der Weltspitze. In der Saison 2022, ein Jahr nach dem traumhaften Tokio-Podest der drei Landsfrauen, ist nicht Neff, Frei oder Indergand die beste Mountainbikerin der Welt – sondern Keller. Die Nidwaldnerin mit den Zürcher Eltern gewinnt den Gesamtweltcup in beiden Sparten (Shorttrack und Cross-Country). Ihr ganz grosser Trumpf ist die Konstanz. «Die Konstanz machte mich zur Athletin, die ich jetzt bin», sagt sie, «sie basiert auf einem gesunden Fundament und ist nicht gehypt für eine Quali auf einen Grossanlass.» Wenn sie startet, ist Keller eigentlich immer in den Top Ten. Egal, wie die Strecke, das Wetter und das Startfeld aussehen.
Grosse Konkurrenz für die Gesamtweltcup-Leaderin
Die Frau aus Ennetbürgen reiste jetzt als Leaderin des Gesamtweltcups nach Paris, auch in der Weltrangliste ist sie die Nummer 1. Obwohl es für Paris nur noch zwei statt drei Startplätze pro Nation gibt und die Schweiz diverse starke Weltcupfahrerinnen hat, war Keller als klar stärkste Schweizerin praktisch gesetzt. Jetzt ist sie spätestens seit der Absage von Titelverteidigerin Jolanda Neff (31) unsere ganz grosse Medaillenhoffnung, auch wenn die Konkurrenz nur schon mit dem Franzosen-Duo Pauline Ferrand-Prévot (32) und Loana Lecomte (24) sowie der Super-Holländerin Puck Pieterse (22) happig ist.
Keller: «Der Sieg wäre ein Traum und eine Medaille natürlich genial. Aber es sind meine ersten Spiele, da bleibt vorerst ein Diplom das Ziel.» Da drückt die Hassliebe wieder durch. Keller will ihr Glück nicht von einem einzelnen Olympiapodest abhängig machen. Für sie werden Erfolge wie der Doppel-Gesamtweltcuptriumph 2022 immer mindestens ebenso wichtig bleiben wie eine allfällige Olympiamedaille – auch wenn sie diese in ganz neue Bekanntheitsspähren katapultieren würde.