Die Italienerin Angela Carini (25) bricht bereits nach 46 Sekunden ihren Boxkampf gegen Imane Khelif (25) ab, die vor einem Jahr wegen eines nicht bestandenen Geschlechtstests von der EM ausgeschlossen worden ist. Trotz Kontroverse darf die Algerierin an den Spielen in Paris bei Frauenwettbewerben teilnehmen. Es ist kein Einzelfall: In der Vergangenheit kam es bereits bei einigen Sportlerinnen und Sportlern wegen Zweifel am Geschlecht zu Diskussionen.
Caster Semenya
Der Fall von Caster Semenya (33) ist wohl der bekannteste. Erstmals für Aufsehen sorgte die südafrikanische Mittelstreckenläuferin 2009 bei den Weltmeisterschaften in Berlin. Im 800m-Lauf gewann sie die Goldmedaille und distanzierte ihre nachfolgenden Konkurrentinnen dabei um über zwei Sekunden. Bereits im Vorfeld kamen aufgrund des maskulinen Aussehens, der tiefen Stimme sowie einer ungewöhnlichen Leistungssteigerung Zweifel am Geschlecht Semenyas auf. Wegen des deutlichen Sieges in Berlin wurde schliesslich ein Test zur Überprüfung des Geschlechts angeordnet.
In der Untersuchung wies Semenya ein dreimal höheres Testosteron-Niveau auf, als Frauen üblicherweise haben. Der medizinische Befund liefert die Erklärung dazu: Die zweifache Olympiasiegerin wurde bei ihrer Geburt zwar als weiblich eingestuft, besitzt aber aufgrund einer Störung der Geschlechtsentwicklung männliche XY-Chromosome und gilt somit als intergeschlechtlich. Semenya hat von Geburt an keine Eierstöcke und Gebärmutter, dafür aber innenliegende Hoden, die den erhöhten Testosteronspiegel verursachen. Seither kam es immer wieder zu Kontroversen um Semenyas Teilnahme bei den Frauen.
Erika Schinegger
Eine medizinische Parallele gibt es im Fall Erika Schinegger (76). Wie bei Semenya wurde auch die österreichische Skirennfahrerin wegen nach innen gewachsenen Geschlechtsmerkmalen bei der Geburt als Mädchen eingestuft. In einer Geschlechtsüberprüfung vor den Olympischen Spielen 1968 in Grenoble (Fr) wurden bei ihr männliche Chromosomen entdeckt, weshalb sie als intersexuell gilt. Die Abfahrtsweltmeisterin von 1966 beendete daraufhin ihre Karriere, liess sich zum Mann operieren und änderte den Vornamen zu Erik.
Den Weltmeistertitel von 1966 in der Abfahrt der Frauen durfte Schinegger zunächst behalten. Die zweitplatzierte Marielle Goitschel bekam jedoch Jahre später nachträglich die Goldmedaille und wird seit 1988 als Siegerin aufgeführt.
Dutee Chand
Die indische Leichtathletin Dutee Chand (28) wurde als Mädchen geboren. Kurz vor ihrem Karriere-Durchbruch mit 17 Jahren disqualifizierte der indische Leichtathletikverband die Sprinterin für Frauenwettbewerbe, weil sie bei einer medizinischen Untersuchung einen stark erhöhten Testosteron-Wert aufwies und als nicht weiblich eingestuft wurde.
Gemäss einer seit 2011 geltenden Vorschrift des Weltleichtathletikverbands müssten sich Sportlerinnen mit einem Hormonspiegel, der nicht der Norm entspricht, einer Therapie unterziehen, um unter dem festgelegten Wert zu bleiben. Chand zog 2014 gegen diese Regelung vor den internationalen Sportgerichtshof CAS, der den Entscheid fällte, dass die Vorschrift ausgesetzt werden muss, bis bewiesen werden kann, dass Athletinnen mit hohen Testosteron-Werten einen deutlichen Leistungsvorteil haben. 2018 legte der Verband eine Studie vor, dass Frauen mit erhöhtem Testosteron-Spiegel in gewissen Disziplinen einen Vorteil haben, worauf der CAS die Zulässigkeit für die Grenzwerte bestätigte.
Santhi Soundarajan
Die Mittel- und Langstreckenläuferin Santhi Soundarajan (43) holte bei den Asienspielen 2006 in Katar Silber. Nach einem Geschlechtsbestimmungstest wurde der Inderin die Medaille wieder aberkannt. In der Untersuchung stellte sich heraus, dass Soundarajan von den Chromosomen her männlich ist und eine körperliche Überproduktion an männlichen Hormonen aufweist.
Edinanci Silva
Die brasilianische Judoka Edinanci Silva (47) wurde mit männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen geboren. Vor den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta unterzog sie sich einer Operation, um künftig als Frau zu leben und somit auch an den Wettbewerben für Frauen teilzunehmen. Zu ihren grössten Erfolgen gehören zweimal Bronze bei Einzel-Weltmeisterschaften.
Ewa Klobukowska
Mehrere gebrochene Weltrekorde, EM-Siegerin sowie Olympia-Gold und -Bronze – die erfolgreiche Karriere der Leichtathletin Ewa Klobukowska (77) wurde 1967 jäh beendet. Die Polin bestand vor dem Europacup den für alle Athleten angeordneten Geschlechtstest nicht. Bei Klobukowska wurde ein Chromosomensatz festgestellt, der vom normalen weiblichen XX-Satz abweicht. Daraufhin wurde sie als intersexuell eingestuft.
Zunächst durfte Klobukowska bei der Vorrunde des Europacups starten und wurde vom polnischen Verband schliesslich auch für das Europacupfinale gemeldet. Ganz zum Missfallen des europäischen Leichtathletikverbands, der nach Diskussionen mit dem polnischen Verband die Testergebnisse öffentlich machte, worauf Klobukowska disqualifiziert wurde. Einige Jahre später strich der Weltleichtathletikverband die Weltrekorde der Polin aus den Rekordlisten, ihre Titel durfte sie behalten.
Tamara und Irina Press
Zur Diskussion über das Geschlecht kam es auch bei Tamara (1937–2021) und Irina (1939–2004) Press aus der Sowjetunion. An den Olympischen Spielen 1964 in Tokio sorgten sie für Aufsehen. Tamara sicherte sich in den Disziplinen Kugelstossen und Diskuswerfen die Goldmedaille, Irina wurde überlegen Olympiasiegerin im Fünfkampf. Beide stellten in ihren Disziplinen zudem Weltrekorde auf.
Als 1966 obligatorische Geschlechtskontrollen für die Athleten eingeführt wurden, verschwanden die Schwestern von der Bildfläche. Bereits zuvor wurde ihnen nachgesagt, dass ihr Geschlecht nicht festgelegt werden könne, sie sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale hätten oder sie mit männlichen Hormonen gedopt seien. Teilweise wurden sie als «Press Brothers» bezeichnet – den Rückzug von der Sportbühne sahen schliesslich viele als Eingeständnis.
Foekje Dillema
Die holländische Sprintläuferin Foekje Dillema (†81) sollte sich vor den Leichtathletik-Europameisterschaften 1950 in Belgien einem für alle Athleten angeordneten Geschlechtstest unterziehen. Weil sich Dillema jedoch weigerte, wurde sie vom holländischen Verband lebenslang suspendiert. Nach ihrem Tod im Jahr 2007 stellte sich in DNA-Untersuchungen heraus, dass sie sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale aufwies und intersexuell war.
Stella Walsh
Ebenfalls intersexuell war die Leichtathletin Stella Walsh (†69), die ursprünglich als Stanislawa Walasiewicz in Polen geboren wurde, als Zweijährige mit ihren Eltern in die USA emigrierte und nach Erhalt der US-Staatsbürgerschaft den Namen Stella Walsh trug. Bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles holte sie über 100 m Gold und brach den Weltrekord von 11,9 Sekunden. Vier Jahre später sicherte sie sich in Berlin Silber.
1980 wurde Walsh bei einem bewaffneten Raubüberfall erschossen. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass sie keine Gebärmutter und unterentwickelte männliche Geschlechtsorgane hatte. Ausserdem wies sie sowohl weibliche als auch männliche Chromosomen auf.