Jenjira Stadelmann wäre bestimmt eine gute Tierärztin geworden. Ihre Fröhlichkeit, ihr Lachen, ihre Begeisterung und Empathie steckt auch die Menschen an, die ihr begegnen. Sie hat sich zum Glück anders entschieden. Jenjira, die von allen Jenny genannt wird, ist nicht Tierärztin, sondern professionelle Badmintonspielerin geworden. Die 24-Jährige wird die Schweiz an Olympia in Paris im Einzelwettbewerb vertreten, wird sich mit den Allerbesten der Welt messen – mit einer Übermacht aus dem Fernen Osten.
Badminton, dieses schnelle Spiel, das so leicht aussieht und so wenig mit dem Federballspiel zu tun hat, das wir alle kennen, das wir alle und schon die alten Griechen und Azteken spielten und das zum Ziel hat, den Shuttle so lange wie möglich hin und her spielen zu können, ohne dass dieser zu Boden geht.
Im Badminton hingegen, der schnellsten Ballsportart der Welt, geht es ganz anders zu und her. Da sind die Kontrahenten von einem Netz getrennt. Man kann den Shuttle bis zu 400 km/h beschleunigen, und das Ziel ist es, den Gegner oder die Gegnerin zu besiegen. Das klingt ernst und passt so gar nicht zu Jennys Ausstrahlung, die federleicht ist und fröhlich und mit einem breiten Lächeln sagt: «Ich freue mich auf Paris, werde jede Minute einsaugen und geniessen. Ich fühle keinen Druck.»
Aktuell die Nummer 84 der Welt
Die Zielsetzung der aktuellen Nummer 84 der Welt für die erste Teilnahme an Olympischen Spielen ist variabel definiert: «Erstes Ziel ist, Erfahrungen zu sammeln. Dann vielleicht einen Satz, wenns gut läuft, ein Spiel zu gewinnen. Alles, was darüber hinaus geht, nehme ich gerne mit.»
Jenny träumt manchmal nachts. Sie sieht sich auf dem Feld stehen, lachend, locker, gut spielend. Doch die Realität sieht oft anders aus. Da stehen sich während eines Spiels zwei Gegnerinnen gegenüber, die sich auf der Jagd nach Punkten über das Feld jagen. Und zwischen den Punkten geht das Duell mit den Augen weiter. «Wenn ich der Gegnerin in die Augen sehe, weiss ich, wie sie sich fühlt. Und mit meinen Augen kann ich Signale aussenden. Ihr tief in die Augen blicken, heisst: Ich bin fokussiert, zu allem bereit, körperlich voll da.»
Badminton beinahe aufgegeben
Jenjira Stadelmann ist in Chiang Mai, einer Grossstadt im Norden Thailands, geboren und aufgewachsen. Ihr Vater ist Schweizer, ihre Mutter Thailänderin. Als Kind hat sie mehrere Sportarten ausprobiert, auch Tennis, aber da es oft sehr heiss ist in Thailand, schlug ihr der Vater eine Hallensportart vor, wo man nicht vom Wetter abhängig ist. Jenny gefiel Badminton so gut, dass sie dabei blieb und sich viele Jahre als Jahrgangsbeste behauptete. Doch es wurde immer härter, die Konkurrenz immer grösser. Verletzungen kamen dazu, und die berufliche Weiche kam immer näher. Ihr Mädchentraum war es, Tierärztin zu werden. Sie hatte so gute Noten in der Schule, dass sie mit 16 in Bangkok ohne Aufnahmeprüfung die beste Universität des Landes für Veterinärmedizin hätte besuchen können.
Doch vorher wollte sie noch die Heimat ihres Vaters besuchen. «Ich habe immer gehört, die Schweiz sei das Paradies auf Erden.» Da ihr Vater in den vier Wochen viel arbeiten musste, als die Tochter zu Besuch kam, schaute er nach einem Alternativprogramm, meldete sie bei Badminton-Probetrainings in St. Gallen an. Dort wird ihr Talent sofort entdeckt. Auch weil sie als Doppelbürgerin den Schweizer Pass besitzt, wird ihr schnell vorgeschlagen, hier zu bleiben und die Sportschule Appenzellerland in Trogen zu besuchen.
In zwei Jahren Deutsch gelernt
Zurück in Thailand musste sie sich dieses einmalige Angebot gut überlegen. Schliesslich verabschiedete sie sich von der Familie in Thailand und von ihrem Kindheitstraum Tierärztin, zog in die Schweiz und fing ein neues Leben an, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. «Am Anfang war das sehr hart, und ich hatte Angst zu sprechen, weil ich nichts Falsches sagen wollte. Zudem plagte mich das Heimweh.» Jenny biss durch – zum Glück für den Schweizer Sport.
Heute wohnt sie in Bümpliz in Bern in einer WG, ist Badminton-Profi, trainiert zehnmal die Woche, spielt Interclub beim BC Trogen-Speicher in der NLA und auch in der französischen Liga in Paris mit dem Racing Club de France. Sie hat sich einen Traum erfüllt, den sie mit 16 eigentlich schon ausgeträumt hatte: Jenny Stadelmann fährt als Athletin zu den Olympischen Spielen. Bei der Frage, ob sie stolz sei, was sie erreicht habe, stockt sie ein bisschen. «Ich möchte nicht arrogant erscheinen, aber zu bescheiden sein, hilft auch nicht. Darum sollte ich öfter sagen: Ja, ich bin stolz, ich habe viel erreicht, ich habe nie aufgegeben. Alles ist möglich, obwohl es schwierig ist.» Jenny spricht in makellosem Deutsch. Das Kompliment dafür quittiert sie mit einem strahlenden Lächeln.