Aufstieg zum Volkshelden
Marchand ist das Gesicht dieser Olympischen Spiele

Kannten seinen Namen vor den Spielen nur wenige, schoss Vierfach-Olympiasieger Léon Marchand wie eine Rakete in den Olymp und mitten in die Herzen der Franzosen.
Publiziert: 10.08.2024 um 23:43 Uhr
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Aktualisiert: 11.08.2024 um 08:07 Uhr
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Léon Marchand zeigt es an: Vier Goldmedaillen. 400 Meter Lagen, 200 Meter Brust, 200 Meter Schmetterling, 200 Meter Lagen. Dazu eine Bronzemedaille in der 4x100 Meter Lagenstaffel.
Foto: AFP
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Patrick MäderAutor Blick Sport

Léon Marchand läutete diese Spiele ein, wie es sich die Franzosen gewünscht hatten. Er zündete den Funken, den ein solches Grossereignis braucht, um zum feurigen Spektakel zu werden. Bereits am zweiten Wettkampftag schwamm der 22-jährige Toulouser einen olympischen Rekord. Über die 400 Meter Lagen gewann er nicht einfach Gold, es war unendlich viel mehr: Marchand demoralisierte mit seiner Überlegenheit die Konkurrenz, schlug 5,67 Sekunden vor dem Zweitplatzierten an. Der deutsche Cédric Büssing, der im Final der besten Acht als Letzter anschlug, hatte über 14 Sekunden Rückstand.

Nicht wenige rieben sich die Augen. Doch die Klasse von Marchand hätte niemanden überraschen müssen, schliesslich hatte er vor Paris schon fünf WM-Goldmedaillen gewonnen, und er hält den Weltrekord über 400 Meter Lagen, den er 2023 seinem Idol Michael Phelps entriss. Der Rekord des Amerikaners hielt 20 Jahre. Trotzdem war Marchand vor den Spielen den meisten Franzosen unbekannt. Wohl, weil er nach der Matura nach Texas in die USA auswanderte, wo er sein Informatik-Studium absolvierte und parallel dazu unter den Fittichen von Bob Bowman an seiner Schwimmkarriere arbeitete.

Trainer Bowman vergoldete schon Phelps

Bowman war der Erfolgscoach von US-Schwimm-Legende Michael Phelps, dem 23-fachen olympischen Goldmedaillengewinner. Der heute 59-jährige Trainer kannte Léons Eltern Xavier Marchand und Céline Bonnet, beides ehemalige Olympiaschwimmer, aber es war ihm nicht bewusst, welcher Goldfisch ihm da zugeschwommen war. 

Der Genfer Jérémy Desplanches, Bronze-Medaillengewinner über 200 Meter Lagen von Tokio, der in Paris seine letzten Rennen schwamm und nun zurücktritt, erinnert sich gut an gemeinsame Zeiten mit Marchand: «Ich bin früher oft gegen ihn geschwommen, habe ihn viele Male geschlagen. Bei einem gemeinsamen Interview ist Marchand gar mal gefragt worden, was das für ein Gefühl sei, neben einem wie Desplanches zu schwimmen.»

Damals war der rasante Aufstieg von Marchand nicht abzusehen. Desplanches, der sich seine ganze Karriere mit harter Arbeit erkämpft hat, weil er nicht so viel Talent besass, erklärt es so: «Marchand ist mit unglaublich viel Talent gesegnet und trainiert trotzdem so hart, als hätte er zu wenig davon.» Der Franzose hat mit seinen vier olympischen Goldmedaillen auch die Erwartungen seines Trainers übertroffen: «Ich bin beeindruckt, wie er mit dem Druck umgegangen ist. Er hat diesen antizipiert und dann Rennen für Rennen genommen. Selbst als das Publikum durchdrehte, war er zwar aufgeregt und glücklich, blieb aber cool.»

Als Marchand schwamm, stand alles still

Ob Marchand tatsächlich bewusst war, wie es um die Stimmung in Paris, ja in ganz Frankreich stand? Unmittelbar bekam er die Stimmung in der Schwimmhalle mit, die das Publikum in eine Festhütte verwandelte, wann immer ihr Liebling zu sehen war. Mit Lichtshows und Musik grandios inszeniert waren diese Schwimmwettbewerbe auch dank der Ambiance ein Highlight dieser Spiele. Wenn Marchand auf dem Startblock stand, war alles andere unwichtig. Da versammelten sich die bewaffneten Polizisten vor der Halle zu einer Traube, um den Lauf des 22-Jährigen auf einem Handy anzuschauen. Da wurden in anderen Arenen die Wettkämpfe unterbrochen, weil alle auf die kleinen Bildschirme starrten und «Léon, Léon, Léon» schrien. Da legten die Menschen in den Restaurants Messer und Gabel zur Seite, weil sie nichts verpassen wollten. 

Der «Kleine Prinz» wurde er schon genannt, ein Liebling der Massen, ein anständiger Kerl ohne Allüren, bei dem sich keiner getraut, eine Dopingfrage zu stellen. Ein weisser, junger, erfolgreicher Franzose. Dass er in den USA lebt und trainiert, darüber blickt man grosszügig hinweg. Das wird sich auch nicht so schnell ändern, denn Bowman hat für seinen Schützling bereits das nächste Ziel in den Fokus gerückt: «Jedes kommende Jahr wird eine Etappe auf dem Weg zu den nächsten Spielen 2028 in Los Angeles sein.»

Tauchphase macht wichtigen Unterschied

Was es heisst, unter der Regie von Bowman zu trainieren, erklärte Michael Phelps anlässlich eines von Omega organisierten Doppel-Interviews. Sowohl Phelps als auch Marchand sind Botschafter des Schweizer Uhrenherstellers. «Es sind die ständigen Wiederholungen, die am Ende den Unterschied ausmachen. Kleine Details, auf denen Bob herumreitet, bis sie sitzen.» Jeden Tag mit Bowman zu trainieren, ergänzt Marchand, sei viel härter als das eigentliche Rennen. «Wir müssen eine Menge Schmerzen ertragen.»

Vor ein paar Jahren habe er eine Dokumentation über Phelps und Bowman gesehen. Da ging es um die Tauchphase nach dem Start und nach der Wende. «Michael hat darin erklärt, wie man den Wellen an der Oberfläche ausweichen könne. Indem man tiefer abtaucht, was man beim Abstoss von der Wand steuern könne, und dann unter Wasser richtig hart arbeiten müsse.» Marchand hat das ausprobiert, am Anfang erfolglos. Doch hat er nicht nachgelassen, es bei jeder Wende optimiert, bis sich die Mühe in besseren Zeiten niederschlug.

Inzwischen ist die ausgedehnte Tauchphase die grosse Stärke von Marchand. Omega liefert dazu interessante Zahlen. In seinem Goldlauf in Paris über 400 Meter Lagen legte Marchand unter Wasser insgesamt 69,421 Meter zurück, davon 12,3 Meter bei seiner letzten Wende, wobei 15 Meter erlaubt sind. Zum Vergleich: Der Silbergewinner Matsushita tauchte insgesamt 60,85 Meter und nach der letzten Wende noch 4,06 Meter.

«Marchand hat Milak am Ende zerstört»

Die überraschendste Goldmedaille holte Marchand über 200 Meter Schmetterling. Da galt Weltrekordhalter Kristof Milak als klarer Favorit. Nach der WM 2022, wo der Ungar Marchand noch um über drei Sekunden auf den zweiten Platz verwies, sagte der Franzose: «Er ist immer noch eine andere Welt. Er nimmt mehr Wasser auf und ist entspannter, das möchte ich in Zukunft erreichen. Ich lasse mich davon inspirieren.»

In Paris sah es lange nach einem Sieg von Milak aus, doch nach der letzten Wende änderte sich das Bild. Marchand tauchte 12,71 Meter weit, Milak 9,37 Meter. Und weil der Franzose seine Durchschnittsgeschwindigkeit auf den letzten 50 Metern halten konnte und der Ungar langsamer wurde, schlug Marchand am Ende unter tosendem Jubel als Erster an. Bowman sagte danach: «Milak in diesem Rennen zu schlagen, war seine grösste Herausforderung. Unsere Strategie war die richtige, Léon blieb geduldig und am Ende zerstörte er ihn.» Bowman hält Marchand hinter Michael Phelps und Mark Spitz bereits jetzt für einen der grössten Schwimmer der Geschichte, sagt aber auch, dass er sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft habe.

Die Fragen, die sich jetzt stellen: Wie geht der Franzose mit dem Riesentrubel um seine Person um? Wird ihn die Rolle des neuen französischen Nationalhelden verändern? Wird er dem immensen Druck weiterhin so cool standhalten? Was ihm niemand mehr nehmen kann: Die Olympischen Spiele 2024 in Paris werden für immer mit seinem Gesicht, seinem Namen, seinen vier Goldmedaillen in den Einzelrennen und der bronzenen in der Staffel in Verbindung bleiben. Er hat diese Spiele geprägt.

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