Ein kurzer Griff in den Rucksack reicht – und es scheint, als ob jemand ein Scheinwerferlicht auf sie setzte, als ob sie urplötzlich auf einem Sockel inmitten der anderen Menschen stünde und alles überstrahlte. Als wir Anfang August mit Chiara Leone einen Spaziergang durchs Pariser Künstlerviertel Montmartre machen, kramt die Fricktalerin irgendwann ihre Goldmedaille hervor. Sie darf beim Fotoshooting natürlich nicht fehlen. Die 26-jährige Sportschützin hat im Dreistellungskampf über 50 m den einzigen Schweizer Olympiasieg der diesjährigen Sommerspiele geholt – und lässt beim Besuch eines Porträtzeichners ihren Erfolg noch einmal Revue passieren. Doch das goldene Ding um ihren Hals lenkt immer wieder vom eigentlichen Gespräch ab.
Kaum hat sie die Medaille ausgepackt, stellt sie für einmal sogar die Touristen-Attraktionen wie die Sacré-Cœur-Basilika oder die hübschen Montmartre-Gässchen in den Schatten. Eine Randsportarten-Athletin wird zum Superstar. Wann trifft man im Alltag schon mal auf eine frischgekürte Olympiasiegerin? Im Minutentakt fragen Leute nach Selfies, erkundigen sich nach ihrem Erfolg und die ganz Mutigen wollen das Edelmetall sogar in den Händen halten. Sogar eine Polizeipatrouille hat für kurze Zeit nur Augen für Chiara Leone und das goldene Objekt der Begierde. Haben auch die Beamten ein Beweisfoto gemacht? Mais oui!
Endlich ein bisschen Aufmerksamkeit
Erst als eine chinesische Reisegruppe sie von vorne und von hinten belagert, wird es für Leone fast schon anstrengend. «Der Rummel ist unglaublich, aber ich versuche auch, es so gut wie möglich zu geniessen», sagt sie. Man merkt schon da: Leone schätzt es, dass sie und ihre Sportart so ein wenig mehr Aufmerksamkeit bekommen. Später im Jahr sollte ihr der Olympiasieg noch so manches Türchen in der Schweizer Sportlandschaft öffnen. An Einladungen für grosse Events mangelt es ihr nicht.
Leones Olympiamärchen hält auch Monate nach ihrem Triumph bis heute an – und das wird womöglich eine ganze Weile noch so sein. Gold sicherte sie sich letztlich nicht nur mit einem mit 10,8 gewerteten Wunderschuss, sondern auch mit einem neuen Olympiarekord von 464,4 Punkten im Gesamtskore. Sie löst damit die bisherige Rekordhalterin und Landsfrau Nina Christen ab, die 2021 in Tokio alle überflügelte. Diese neue Bestmarke muss ihr erstmal jemand nehmen.
Am stolzesten war die Grossmutter
Zusammen mit Bronzemedaillengewinnerin Audrey Gogniat (22, 10 m Luftgewehr) hat Leone an den Sommerspielen unterstrichen, welch wichtige Rolle die Sektion Schiessen im Schweizer Sport innehat. Und sie zeigte mit den Medaillenfeiern in Paris und den Empfängen in der Heimat erneut auf, dass eben auch diese ansonsten weniger Beachtung findenden Sparten grosse Begeisterungsstürme auslösen können.
Am stolzesten war in diesem Sommer wohl aber die Grossmutter in Süditalien. Bevor Leone in Montmartre ihre Goldmedaille – zusammen mit dem Erinnerungsporträt – wieder im Rucksack verstaut, um wieder etwas durchatmen zu können, erzählt sie: «Ich habe natürlich noch am Tag meines Sieges direkt meine Nonna Candida angerufen. Sie wurde gerade 90 und sagte mir, ich hätte ihr das schönste Geburtstagsgeschenk überhaupt gemacht.»