Herr Moser, Sie müssen es wissen: Warum zählen Schulabwarte zu den unbeliebtesten Menschen der Schweiz?
Ein Schulabwart muss streng sein und die Kinder müssen vor ihm Angst haben. Wenn er mit bösem Blick um die Ecke kommt, sollten alle zusammenzucken. Doch ich war anders.
Wie waren Sie?
Bei mir hatten die Kinder Respekt, aber keine Angst. Ich war deshalb bei den Kindern und den Lehrern beliebt, nicht aber bei den Behörden. Deshalb wurde ich nach 13 Jahren weiterempfohlen …
Respekt und Anstand – haben Sie das von Ihren Eltern gelernt?
Wir waren eine arme Arbeiterfamilie, die zu siebt in Freimettigen im Emmental lebte. Meine Mutter war Hausfrau, und mein Vater war Fabrikarbeiter. Der Monat war bei uns jeweils einfach eine Woche zu lang. In den letzten Tagen des Monats hatten wir deshalb kaum etwas zum Essen. Damals kam sogar die Idee auf, ich könnte zu einem Bauern arbeiten gehen. Ich war nah dran am Verdingbub.
Haben Sie darunter gelitten, dass Ihre Eltern kaum Geld hatten?
Nur einmal. Als ich in Oberdiessbach in die Sek ging, wollte ich ins Skilager. Doch das war nicht möglich, weil wir kein Geld für Ski hatten.
Waren Sie ein guter Schüler?
In der Primarschule war ich gut, doch in der Sek wurde ich von Jahr zu Jahr schlechter. Hätte ich ein 10. Schuljahr machen müssen, hätte das einer nicht überlebt: der Lehrer oder ich.
Welchen Beruf erlernten Sie?
Eigentlich wollte ich Mechaniker werden. Doch ich litt unter Handschweiss. Dadurch fing alles, was ich anfasste, an zu rosten. Deshalb wurde ich Bauschlosser.
Der heute 77-Jährige ist der erfolgreichste Waffenläufer aller Zeiten: 8 SM-Titel, 56 Tages- und 85 Kategoriensiege. Kleiner Makel: Den legendären Frauenfelder gewann er «nur» einmal. «Das stimmt nicht», sagt Moser dazu, «ich gewann ihn dreimal: das erste, das letzte und das einzige Mal!»
Bis vor wenigen Jahren bestritt «Brächtu» noch Läufe. Jetzt lässt er es ruhiger angehen. Er lebt zusammen mit Beatrix in Pieterlen BE.
Der heute 77-Jährige ist der erfolgreichste Waffenläufer aller Zeiten: 8 SM-Titel, 56 Tages- und 85 Kategoriensiege. Kleiner Makel: Den legendären Frauenfelder gewann er «nur» einmal. «Das stimmt nicht», sagt Moser dazu, «ich gewann ihn dreimal: das erste, das letzte und das einzige Mal!»
Bis vor wenigen Jahren bestritt «Brächtu» noch Läufe. Jetzt lässt er es ruhiger angehen. Er lebt zusammen mit Beatrix in Pieterlen BE.
Wie kamen Sie zum Sport?
Ich träumte davon, wie Ferdy Kübler oder Hugo Koblet Radrennfahrer zu werden. Mit 14 fuhr ich einmal alleine mit einem Dreigänger von Bischofszell 200 Kilometer nach Hause. Manchmal war ich auch mit meinem Vater unterwegs. Wir assen Landjäger und übernachteten bei Bauern. Ja, Velofahrer wäre mein Ding gewesen.
Warum hat es nicht geklappt?
Wir hatten für ein richtiges Velo kein Geld. Und weil ich schon in der Schule nur rennen konnte, wurde ich Leichtathlet.
Als Leichtathlet wurden Sie mehrfacher Schweizer Meister.
Es gibt noch heute nicht viele Schweizer, die über 5000 und 10’000 Meter die Zeit laufen, die ich damals aufgestellt habe. Das macht mich schon ein bisschen stolz.
1972 schafften Sie es gar an die Olympischen Spielen von München. Vor kurzem jährte sich das schreckliche Attentat zum 50. Mal.
Ich konnte mir all die Dokumentationen, die jetzt liefen, nicht anschauen. Das alles geht mir noch heute viel zu nah. Sie sehen es, mir kommen sofort die Tränen, wenn ich daran zurückdenke.
Warum berührt Sie das so sehr?
Ich weiss es selbst nicht so genau. Vor dem Attentat war alles so schön und bunt. Die vielen Mädchen, überall das Waldi-Maskottchen. Es waren unbeschwerte Tage. Ich gab meinem Schwiegervater meinen Ausweis mit meinem Foto drauf. Obwohl er mir überhaupt nicht glich, konnte er sich damit alle Wettkämpfe anschauen, denn kontrolliert wurde er nicht. Doch dann kam das Attentat, und danach konnte man ohne Ausweis nicht einmal mehr aufs Klo gehen.
Sie kehrten später der Leichtathletik den Rücken zu. Warum eigentlich?
Als Leichtathlet musst du dich von Rennen zu Rennen steigern. Nach 1973 gelang mir das nicht mehr. Irgendwann sagte einer: «Komm doch mal an einen Waffenlauf.»
Waffenlauf und Moser – war das Liebe auf den ersten Blick?
Naja, sagen wir es so: Ich hätte diese Sportart nicht erfunden.
Warum nicht?
Ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, dass man in einem Rucksack ein Gewehr mit sich trägt und dann so rennt. Doch weil ich schnell einmal Erfolg hatte, machte ich weiter.
Wurden Sie von den Waffenläufern mit offenen Armen empfangen?
Nein, aber das lag auch an mir. Ich kam zur Tür hinein, ohne anzuklopfen. Die anderen erwarteten von mir, dass ich zuerst mal hinterherrennen würde. Doch weil ich als ehemaliger Leichtathlet eine Grundschnelligkeit hatte, war ich schnell einmal Seriensieger.
Sie sagten damals: «Mir ist egal, wer Zweiter wird!»
Das kam gar nicht gut an, doch ich empfand es damals so. Soll ich mich dafür im Nachhinein entschuldigen? Wenn das der eine oder andere falsch aufgefasst hat, tut mir das leid. Selbstbewusstsein und Überheblichkeit sind eben Zwillingsbrüder.
Ihr Dauerrivale war Kudi Steger. Sie sollen ihn schon ab und zu provoziert haben.
Das stimmt, einmal stand eine schöne Frau am Wegrand, die Kudi einen Schwamm geben wollte. Ich sah das, rannte zu ihr, nahm den Schwamm und drückte ihn genüsslich über meinem Kopf aus. Dann reichte ich ihn dem Kudi weiter. Doch wissen Sie, was das Beste ist?
Nein.
Kudi wurde so sauer und beflügelt, dass er mir davonrannte und gewann, denn ich hatte innerlich eine so grosse Genugtuung, dass ich gar nicht mehr richtig secklen konnte.
War diese Aktion von Ihnen nicht unfair?
Ja, das kann man schon sagen. Ein Engel war ich nicht. Aber auch Kudi spielte nicht immer fair.
Wo nicht?
1984 La Chaux-de-Fonds–Neuenburg. Ich lag klar in Führung, doch 200 Meter vor dem Ziel bog der Töfflifahrer, dem ich nachrannte, falsch ab. Ich rannte ihm einfach nach, bis er sein Töffli in einer Garage abstellte. Ich noch immer an seinem Hinterrad (lacht). Danach einigte man sich darauf, dass ich trotzdem zum Sieger erklärt wurde. Auch Kudi akzeptierte das, doch ein halbes Jahr später sagte er, das sei die grösste Enttäuschung gewesen, die er im Sport je erlebt hätte. Den Moser als Sieger auszurufen, ohne dass er je das Ziel passiert hätte, sei eine Frechheit.
Aber Sie waren ja auch kein Unschuldslamm. Welche Psycho-Tricks hatten Sie in Ihrem Repertoire?
Da gab es einige. Wenn zum Beispiel ein Fotograf anwesend war, rannte ich extra so versetzt vor Kudi, dass er den Fotografen nicht sehen konnte. Dann bin ich jeweils im letzten Moment ausgewichen, und er rannte voll in den Fotografen rein. Auch bei den Verpflegungsposten spielte ich meine Spielchen.
Welche?
Ich tat so, als ob ich mich dort verpflegen würde. Im letzten Moment rannte ich weiter, während die anderen sich dort verpflegten. 500 Meter weiter vorne hatte ich dann meinen privaten Posten. So konnte ich jeweils ein Loch von mehreren Metern auf meine Konkurrenten aufreissen.
Stimmt die Anekdote, dass Sie den TV-Leuten jeweils im Vorfeld sagten, wo Sie angreifen werden?
Ja, es war wie bei Cassius Clay, der jeweils sagte, in welcher Runde er seinen Gegner k.o. schlagen wird.
Das alles klingt nicht danach, dass Sie ein Sympathieträger waren.
Das wollte ich auch gar nicht sein, das war ja keine Castingshow. Ich war ein gnadenloser Egoist, der nur für sich geschaut hat.
Einmal sagten Sie im TV auf die Frage, was Sie beim Waffenlauf fürs Militär lernen könnten: «Fliehen vor dem Feind.»
Ich wurde danach als Landesverräter und Nestbeschmutzer betitelt. Doch für mich hatte der Waffenlauf nichts mit dem Militär zu tun. Es war ein sportliches Kräftemessen.
Reich wurden Sie damit aber nicht.
Nein, meist gab es einen Zinnbecher für den Sieger. Mehr nicht. Und einmal erhielt ich gar ein Damenvelo. Dank Blick bekam ich dann aber doch noch ein Richtiges.
Wie kam es dazu?
Es war ein Villiger-Velo. Also ging ich in die Fabrik und wollte es gegen ein Velo mit einem grösseren Rahmen umtauschen. Doch die sagten Nein und hatten das Gefühl, ich würde vor ihnen auf die Knie gehen. Also drohte ich damit, dem Blick die Geschichte zu erzählen. Und prompt bekam ich ein anderes Velo.
Waren Sie gewinnsüchtig?
Ganz klar ja. Und mir hat es Spass gemacht, wenn mir Leute gratulieren mussten, die mich eigentlich nicht mochten. Wenn sie mir mit einem gequälten Lächeln die Hand schütteln mussten.
Sind Sie ein Einzelgänger?
Das kann schon sein, wahrscheinlich wurde ich so geboren. Später arbeitete ich 20 Jahre lang als Gemeindeverschönerungsangestellter. Auch dort machte ich mein Ding. Meine Arbeitskollegen gingen abends noch einen trinken, doch ich ging dann lieber noch alleine Velo fahren oder secklen.
In der Liebe waren Sie aber kein Einzelgänger. Blick schrieb einst, als Sie Schulabwart waren: «Drei Frauen in sechs Jahren – ein schlechtes Beispiel für Schüler, er verlor den Job.» Waren Sie ein Liebeskasper?
Ich war sicherlich kein Kostverächter, und es gab früher manchmal ein Hin und Her. Ein Nest war immer erst voll, wenn zwei drin waren. Und ja, ich war halt als Waffenläufer auch ein bisschen ein Star. Nach den Läufen blieb man halt sitzen, ass noch etwas. Und dort hatte es auch immer Frauen.
Sie sind mittlerweile 77 Jahre alt. Sind Sie ruhiger geworden?
Ja, ich bin seit 27 Jahren mit Beatrix zusammen. Unsere Patchwork-Familie umfasst sechs Kinder und acht Enkel. Und eines Tages möchte ich mal noch die Taufe eines Urenkels sponsoren.
Treiben Sie noch Sport?
Ich habe mal gesagt, dass ich rennen werde, bis mir der «Scheiche» abfällt. Doch ich habe vorher nach über 2000 Läufen aufgehört. Obwohl ich rechts ein künstliches Hüftgelenk habe, kann ich noch arbeiten.
Sie arbeiten noch immer?
Ich habe etwa noch 40 Privatkunden, denen ich im Garten helfe.
Stimmt es, dass Sie mit der Technik auf Kriegsfuss stehen?
Ja. Ich habe schon Mühe, den Fernseher einzuschalten. Ich habe zwar ein Handy, aber auf dem ist nur eine Nummer gespeichert: die von Beatrix. Und bis ich an einem Billettschalter ein Ticket gekauft hätte, würde kein Zug mehr fahren.
Haben Sie noch Träume?
Ich träume viel, meist von Bergläufen und dabei fast immer von Sierre–Zinal, was für uns Läufer vergleichbar ist mit Paris–Roubaix für Radrennfahrer.
Und Wünsche?
Ich hatte früher nie Zeit und Geld, um mir Wünsche erfüllen zu können. Sie könnten mir jetzt eine Million geben, und es würde sich nichts ändern.
Würden Sie für eine Million wenigstens Ihren Kult-Bart abschneiden?
Nein, den trag ich seit den 70er-Jahren, und den werde ich auch bis zu meinem Tod tragen.