Tag und Nacht Sturm und Flauten ausgesetzt, nie mehr als eine Stunde Schlaf am Stück, harte körperliche Arbeit und sich ständig mit der Konkurrenz vergleichen müssen. Jede Entscheidung muss selber gefällt werden, es gibt keinerlei Hilfe von aussen. Viele Menschen würden diese Ausgangslage als ihren grössten Albtraum bezeichnen. Die Schweizerin Justine Mettraux (38) macht dieses Mega-Abenteuer freiwillig – die verrückte Solo-Weltumseglungsregatta Vendée Globe.
Durchschnittlich beenden nur 55 Prozent der Teilnehmer die härteste Einhandsegelregatta der Welt. Der Rest muss auf den rund 44'000 Kilometern, die es mindestens zu segeln gilt, das Rennen abbrechen. Nicht ohne Grund also wird die Vendée Globe auch der «Mount Everest der Meere» genannt. Doch auf dem Mount Everest waren schon über 7000 Menschen. Zur Vendée Globe starteten bisher in neun Ausgaben erst 200 Männer und Frauen.
Der Bruder bei Alinghi, die Schwester an der Vendée
Mettraux erlernte das Segeln auf dem Genfersee. Dass sie nicht am Meer aufgewachsen ist, sieht sie nicht als Nachteil: «Die Schweiz ist ein guter Ort, um segeln zu lernen. Die Boote funktionieren nämlich überall gleich.» Das sah der Rest der Familie wohl genauso, denn alle ihre vier Geschwister segeln. Ihr Bruder Bryan war Co-Steuermann bei Alinghi Red Bull zuletzt am America's Cup, und auch ihre zwei Schwestern Elodie-Jane und Laurane segeln erfolgreich auf den Weltmeeren. Zum Segeln gekommen sind sie alle durch die Eltern, die auf dem Genfersee ihre Freizeit verbrachten.
Nun läuft die Vendée Globe seit über einem Monat. Debütantin Mettraux ist auf Rang 10 beste aller sechs Frauen und auch die schnellste im Schweizer Trio (Alan Roura auf Rang 20, Oliver Heer 31.).
Die Debütantin mischt die Flotte der französischen Seebären auf
Blick sprach mit Mettraux in der hektischen ersten Phase des Rennens, doch die Genferin war die Ruhe selbst: «Die Wetterkonditionen waren ziemlich easy. Wegen der Cargo-Schiffe rund um die spanische Küste musste ich etwas aufpassen, aber ansonsten lief alles ganz gut.»
Wohlbemerkt hatten ihre Konkurrenten zu diesem Zeitpunkt schon Nervenzusammenbrüche und Verletzungen erlitten oder mussten das Rennen sogar beenden. Viele empfanden den Start also alles andere als «easy».
Nach dem geglückten Start, der sie lange unter den besten zehn segeln liess, wendete sich das Blatt jedoch ein wenig. Am 27. November verlor die Schweizerin ein Vorsegel durch Defekt, wie ihr Team mitteilte. Trotz dieses Rückschlags hält sie sich wacker und ist mittlerweile südlich von Australien unterwegs.
Mit Willensstärke und Erfahrung um die Welt
Denn das Segeln ist eben das eine. Die mentale Stärke ist das andere. Und davon scheint die 38-Jährige jede Menge zu haben. Deshalb ist es an der Vendée Globe auch möglich, dass Männer und Frauen gegeneinander antreten. Es geht um mehr als nur physische Kraft. Es geht darum, mit Schlafmangel und Adrenalinschüben gleichermassen zurechtzukommen und trotzdem einen kühlen Kopf zu bewahren. Es geht darum, das Wetter zu antizipieren und die permanente Gratwanderung zwischen Höchstleistung und Risikomanagement zu gehen. Und es geht um Willensstärke.
«Ihre mentale Stärke ist enorm», sagt Simone Gaeta, der Technical Director des Teams hinter Mettraux. «Sie kennt sich selber sehr gut und weiss, wie sie sich während eines Rennens managen muss.» Ausserdem hat die Genferin jede Menge Erfahrung auf dem Wasser. Sie hat so viele Seemeilen gesegelt wie nur wenige andere an der Vendée Globe und kann so voll und ganz auf ihre Fähigkeiten als Skipperin vertrauen. «Irgendwann kommt man an einen Punkt, wo man fast jede Situation schon einmal erlebt hat und darum weiss, was zu tun ist», erklärt sie. Nicht nur darum rechnen Experten sogar mit einem Top-Ten-Platz von ihr.
Eines macht ihr trotzdem ein wenig Angst: die Technik. «Es ist unmöglich, als Einzelperson die Lösung für jedes technische Problem auf einem solchen Boot zu kennen», sagt Mettraux. Denn auch hier gilt: Selbst ist die Frau! Sie darf zwar bei ihrem Team an Land um Rat fragen, muss aber schlussendlich alles eigenhändig reparieren. Um die härteste Regatta der Welt zu segeln, muss man also wirklich alles können.