Blick: Kariem Hussein, Sie bestreiten am Samstag Ihr drittes Rennen des Jahres. Was wird das für eine Saison?
Hussein: Das werden wir sehen. Ich muss erst ins Wettkampfjahr finden. Im letzten Rennen in Locarno bin ich in die achte Hürde reingekracht, das ist mir noch nie passiert. Ich merke, dass ich den Wettkampf-Rhythmus wieder brauche.
Sie müssen noch die WM- und EM-Limite schaffen. Dafür bleibt nicht mehr viel Zeit.
Ein bisschen Druck ist gut. Der Fokus liegt im Moment darauf, die Fortschritte, die ich im Training gemacht habe, auf die Bahn zu bringen.
Wie schnell können Sie sein?
Ich hoffe, schneller denn je. Was das am Schluss bedeutet, werden wir sehen. Im Training sieht es schon mal gut aus. Ich merke, dass ich die Balance zwischen Belastung und Entspannung gefunden habe.
Das hatten Sie früher nicht?
Früher habe ich immer noch mehr gemacht und wollte vieles erzwingen. Heute mache ich mir meine Trainingspläne selber und merke, was es heisst, ausserhalb des Trainings sagen zu können: «weniger ist mehr» – und im Training dann keinen Lauf weniger machen, nur weil ich müde bin.
Wie lernt man das?
Ich musste lernen, geduldig zu sein, als ich mich 2018 verletzte. Da fanden mein Staatsexamen als Mediziner und die EM am selben Tag statt. Ich wollte unbedingt beides schaffen, war jeden Tag auf 180. Ich hätte eigentlich viel Zeit gehabt, aber ich wollte immer mehr – bis mein Körper «Stopp» gesagt hat. Sechs Sehnen waren lädiert, ich war sechs Monate out, konnte zwischenzeitlich nicht mehr laufen. An Sprinten war nicht mehr zu denken. Da habe ich gelernt, dem Körper mehr Raum zu geben und den Prozess anzunehmen.
Hat Ihnen das geholfen, als Sie letzten Sommer wegen einer Lutschtablette, deren Wirkung überschaubar ist, eine Doping-Sperre erhielten?
Ich habe im Sommer schnell wieder angefangen zu trainieren. Das war wichtig, um mich mental am Leben zu erhalten, damit ich nicht in ein Loch falle.
Der Moment, in dem Sie wissen, wegen Dopings gesperrt zu werden, muss eine Extremsituation sein.
Das war es auch. Was mir geholfen hat, war schnell ein neues Ziel zu definieren und dadurch in eine Routine reinzukommen. Bei mir ist der Alltag das Training, so wie andere etwa ins Büro gehen. Ich musste das Positive sehen. Das war in dem Fall: Mein Körper erhielt neun Monate Zeit, um einen guten Aufbau machen zu können, das kann man mitnehmen. Aber es ist schwierig, das muss man nicht schönreden. Schwierige Situationen bringen einen oft aus der Komfortzone, das war hier maximal der Fall.
2014 wird der Thurgauer Europameister über 400 m Hürden. Sieben Jahre später hat er sich nach einer Reihe von Verletzungen zurückgekämpft und für die Olympischen Spiele qualifiziert, da wird er nach den Schweizer Meisterschaften wegen der Einnahme einer Gly-Coramin-Lutschtablette für neun Monate gesperrt. Ein Fehler, ein blöder noch dazu: Die Wirkung der Tablette ist laut Doping-Experten vernachlässigbar. Im Training ist ihre Einnahme erlaubt, im Wettkampf aber nicht. Mit dem Stempel «Doper» wird Hussein, der Anfang Mai wieder in die Wettkampfsaison einstieg, aber leben müssen.
2014 wird der Thurgauer Europameister über 400 m Hürden. Sieben Jahre später hat er sich nach einer Reihe von Verletzungen zurückgekämpft und für die Olympischen Spiele qualifiziert, da wird er nach den Schweizer Meisterschaften wegen der Einnahme einer Gly-Coramin-Lutschtablette für neun Monate gesperrt. Ein Fehler, ein blöder noch dazu: Die Wirkung der Tablette ist laut Doping-Experten vernachlässigbar. Im Training ist ihre Einnahme erlaubt, im Wettkampf aber nicht. Mit dem Stempel «Doper» wird Hussein, der Anfang Mai wieder in die Wettkampfsaison einstieg, aber leben müssen.
Was bedeutet das konkret?
Viele Leute sagten mir am Anfang: «Komm, sieh es positiv. Du wirst aus der Sache stärker rauskommen.» Das glaubst du am Anfang nicht, das interessiert dich auch nicht. Es ist so, wie wenn eine Beziehung zu Ende geht, wenn man jemanden verliert und dann kommt jemand und sagt: «Es ist für etwas gut, es wird eine neue Person kommen.» Da willst du das alles auch nicht hören, das hilft dir in dem Moment nicht.
Was half denn?
Der Prozess: Du stehst am Morgen auf, denkst manchmal daran, gehst am Abend ins Bett, denkst manchmal daran. Manchmal beschäftigt es dich, manchmal nicht. Das sind diese Wellenbewegungen, die es in so einem Fall gibt. Die habe ich heute noch, einfach nicht mehr so oft und intensiv.
Sie haben jetzt den Doper-Stempel. Wie fühlen Sie sich wahrgenommen?
Sobald ein solches Urteil ausgesprochen ist, wird nicht mehr differenziert. Auf beiden Seiten. Es gibt die, die finden, «der hat doch immer schon etwas gemacht». Und dann die, die von einer Lappalie sprechen. Ich habe das Gefühl, in der Schweiz wird es differenzierter wahrgenommen als im Ausland. Aber ich muss es so oder so akzeptieren. Ich bekomme vor allem die Reaktionen mit, die mir wohlgesonnen sind. Negatives höre ich kaum.
Wissen Sie heute, was Sie alles in Ihrer Tasche haben?
(schmunzelt.) Ja, ich habe dazugelernt. Die Situation, diese Fehlerkette… Ich hatte an dem Tag neue Schuhe dabei. Darum hatte ich eine andere Tasche dabei, die ich normalerweise fürs Krafttraining verwende. Da waren ausgepackte Gly-Coramin-Tabletten drin. Da hätte ich natürlich genauer hinschauen müssen.
Wie oft haben Sie sich dafür verflucht?
Nicht einmal.
Nie?
Es war einfach eine Unachtsamkeit. Ein dummer Moment, der mir nicht passieren darf, natürlich. Aber ich habe kein falsches Bein operiert, keinem Patienten ein falsches Medikament gegeben. Es war einfach ein Fehler im dümmsten Moment, am blödesten Ort. Ich habe mich am Anfang oft gefragt, warum das passiert ist. Aber mich dafür verfluchen? Warum?
Weil Sie so 9 Monate Ihrer Karriere verloren haben. Und als Ihre Sperre bekannt wurde, haben Sie darüber gesprochen, dass Sie Angst vor einem Reputationsschaden haben.
Es geht immer darum: Hast du es absichtlich gemacht oder nicht? Wenn es vorsätzlich ist, dann ist der Fall natürlich anders. Bei mir war es unnötig, aber Fehler passieren. Mein Ruf, alles, auf das ich hingearbeitet habe, war in Frage gestellt. Aber mit dem heutigen Blick bin ich froh, dass ich niemandem geschadet habe, dass ich den Fehler nicht im Spital gemacht habe, wo eine Unachtsamkeit schlimmere Folgen haben kann. Für mich geht der Blick nach vorne.
Ist das so einfach?
Mir ist klar, ich werde ein Leben lang über das Thema reden. Ich habe nichts zu verbergen, ich habe im Sommer sofort alles offengelegt. Aber wie ich wahrgenommen werde, damit habe ich einen gesunden Umgang gefunden. Damit beschäftige ich mich nicht mehr.