Annik Kälin (23) hat sich ein bisschen angeschlichen. «Ich war noch nie so gwundrig auf einen Wettkampf, wie jetzt», sagt sie. Die Bündnerin hat diese Saison noch keinen Siebenkampf bestritten. Sie ist am Samstagmorgen um 10.30 Uhr als erste Schweizerin überhaupt an der WM in Budapest im Einsatz, wenn mit 100 m Hürden der Mehrkampf beginnt.
Zuvorderst mitfiebern wird dann Kälins Vater Marco. Der ist gleichzeitig auch ihr Trainer. «Sein Einfluss ist sehr gross», sagt sie. Die Kälins haben in den vergangenen Jahren in der Szene mit ihren unkonventionellen Trainingsmethoden auf sich aufmerksam gemacht. «Wir haben viel ausprobiert und variiert», sagt Kälin. Bis heute sind die Trainingspläne nicht auf Wochen hinaus fixiert, stattdessen gibt es einen Grundstock an Techniktrainings und Krafttrainings, der Rest wird relativ kurzfristig festgelegt. «Wir bestimmen zum Teil aufgrund der Tagesform, was heute Sinn macht. Zwischendurch lässt der Körper gewisse Trainings nicht zu, da bin ich froh, spontan etwas anpassen zu können.»
Bei Niklas Kaul Inspiration für den Speerwurf geholt
Inspiration holen sich die Kälins auch auf dem Wettkampfplatz. Marco Kälin filmte schon früh die Wettkämpfe – nicht nur die seiner Tochter, wie es sich für einen stolzen Elternteil gehört, sondern auch bei den Besten. Zum Beispiel bei Niklas Kaul (25).
Der Europameister von 2022 (vor Simon Ehammer) ist im Speerwurf das Mass der Dinge. «Er trifft den Speer extrem gut mit seiner Zehnkämpferkonstitution», sagt sie über den 1,90-m-Mann. «Da konnten wir schon etwas abschauen.»
Thiam fehlt – was geht dahinter?
Auch zuletzt war bei der EM-Dritten und WM-Sechsten des vergangenen Jahres Improvisationskunst gefragt. Wegen einer Stressfraktur im linken Schienbein musste sie erst pausieren, dann alternativ trainieren. Im Wasser, auf dem Velo und mit dem Crosstrainer arbeitete sie viel. Die Folge: Technisch machte sie weniger Fortschritte, dafür hat sie körperlich stärker zugelegt. «Im Kraftbereich, bei der Sprungkraft und bei der Schnelligkeit.»
Darum ist sie auch nicht ganz einverstanden, wenn man sie fragt, ob sie eine Wundertüte sei. Die letzten drei Wochen vor den Schweizer Meisterschaften liefen gut, «ich habe da viele Umfänge trainieren können». Mit den 6515 Punkten von München im vergangenen Sommer wäre die Bündnerin die drittbeste Siebenkämpferin der laufenden Saison. Mit Nafi Thiam fehlt dazu eine der ganz Grossen der Zunft. «Das Niveau ist im Moment extrem hoch», sagt Kälin. «Es gab zwei, drei Absagen, aber es hat immer noch eine Reihe von Athletinnen, die vorne dabei sein sollten. Aber sie müssen es erst bringen.» Das gilt auch für Kälin. Mit einem guten Start am Samstagmorgen könnte die Schweizer Rekordhalterin früh Kurs auf eine Spitzenposition nehmen.