Der Sport
Ab wann darf man jemanden als lebende Legende bezeichnen? Mujinga Kambundji (30) ist die grösste Leichtathletin, die die Schweiz je hatte. Ein Status, den sie diesen Sommer zementiert hat: Neue Schweizer Rekorde über 100 m (10,89) und 200 m (22,05), Gold und Silber an der EM, Gold an der Hallen-WM, zwei Final-Qualifikationen im Einzel an der WM.
Die Familie
Die Geschichte wird gern und oft erzählt, aber sie ist auch einfach schön. Die Geschichte der vier Schwestern Kaluanda, Mujinga, Muswama und Ditaji, die mit Papa Safuka und Mama Ruth die Leichtathletik-Schweiz und später die Welt erobern. Doch zum Kambundji-Clan gehören noch viel mehr Menschen: Tante, Onkel, Freundinnen, Freunde. In München zum ersten Mal überhaupt bei einem internationalen Grossanlass dabei: Grossmutter Hanni Nafzger (88). Ein Glücksbringer sei sie nicht, sagt Nafzger, trotz der zwei Medaillen. «Sie hat das alles selber gemacht.» Das Erlebnis München? «Wunderschön», sagt sie. «Nur beim Hunderter habe ich die Nationalhymne vermisst.» Der Bauernhof ihrer Grossmutter ist für Kambundji «der Ort, wo ich hingehe, wenn ich Ruhe brauche. Raus aus der Stadt, es gibt immer etwas Feines zu essen, einen warmen Platz am Ofen im Winter oder einen Sonnenplatz im Sommer. Es ist der Rückzugsort, wo die Familie zusammenkommt.»
Die Liebe
In Mannheim bei Trainer Valerij Bauer lernten sie sich kennen und lieben, seit sechs Jahren sind sie ein Paar, mittlerweile ist Florian Clivaz (27) auch Manager und einer der Trainer von Kambundji, in München ist der Ex-Sprinter erstmals als Coach bei einem Grossanlass dabei. «Ich schätze seine Meinung, seine Expertise», sagt Kambundji. «Im Wettkampf ist mein Blut nicht im Hirn, sondern in den Beinen. Darum darf man mich da auch keine komplizierten Sachen fragen. Er hat die Gabe, in solchen Fällen den analytischen Part zu übernehmen.» In München führen sie eine sehr professionelle Beziehung. «Wir haben im Hotel getrennte Zimmer», sagt Clivaz. «Ich bin für sie da, wenn sie mich braucht.» Kambundji: «Wir machen es ähnlich, wie wenn mich ein anderer Coach betreut: Man sieht sich beim Essen, dann geht man wieder getrennte Wege. Eine gewisse Distanz braucht es im Wettkampfmodus.» Bisher geht das gut, die beiden haben sich das gut überlegt. «Es ist ein Risiko», sagt Clivaz. «Wenn das klappt, dann klappt alles.»
Die Fans
Apropos Liebe: Die Liebe, die Kambundji in der Leichtathletik-Welt entgegengebracht wird, ist bemerkenswert. Über ihren EM-Titel scheinen sich die Fans auf der ganzen Welt aufrichtig zu freuen. In den letzten ein, zwei Jahren scheint sie noch einmal einen Popularitäts-Schub bekommen zu haben. «Das habe ich schon an der WM in Eugene gespürt», sagt sie. «Das deutsche Fernsehen, das französische TV wollten mich da schon, ich merke, dass ich mittlerweile wahrgenommen werde.» Und fügt lachend an: «Ich bin halt auch schon lange dabei.»
Der Sportsgeist
Wer Kambundji auf den 100-m-Final vom Dienstag anspricht, bekommt erstaunlich gelassene Antworten – obwohl sie bloss um fünf Tausendstel von Gina Lückenkemper (25) geschlagen wurde, die ihr normalerweise nicht das Wasser reichen kann. «Für mich war immer klar, dass man sie auf der Rechnung haben muss», sagt Kambundji. «Gerade in Deutschland, vor Heimpublikum.» Die Bernerin denkt sogar noch weiter. «Für unseren Sport ist es gut, wenn die Deutschen in Deutschland gewinnen. Wenn die Leute, die ins Stadion kommen, ein gutes Erlebnis haben, kommen sie hoffentlich wieder. Davon profitieren alle.» Das geht so weit, dass Kambundji sich im Ziel des 100ers für Lückenkemper freute. «Ah, cool», habe sie gedacht, als sie die «1» neben deren Namen aufleuchten sah. «Dann habe ich gemerkt: ‹Mist, das heisst ja, ich bin nur Zweite›», sagt sie. «Aber Gina hat mich geschlagen, sie war schneller als ich. Sie hat sich das verdient.»
Die Reife
Als sie vor drei Jahren in Doha den WM-Final über 100 m knapp verpasste, hatte sie genug. «Beim Verlassen des Stadions traf ich eine polnische Athletin, die meinte, ihre Saison sei nun fertig, sie gehe nun nach Hause. Ich habe sie in dem Moment beneidet.» Es brauchte mehr als einen Abend und ein Telefonat mit Clivaz, bis es wieder ging. Der Rest ist Geschichte: Im 200-m-Rennen holte sie Bronze. Dieses Jahr hätte es nach dem knapp verpassten 100-m-Gold auch so sein können. «Aber ich bin mittlerweile an einem Ort, wo ich mit solchen Situationen umgehen kann. Ich bin viel reifer geworden, darüber bin ich froh.»
Das Training
Wer schon einmal ein Sprinttraining beobachtet hat, weiss: So richtig spektakulär ist das zum Zuschauen nicht. Was liebt Kambundji daran? «An sich selber arbeiten können, besser werden und konstanter werden. Das fasziniert mich.» Das gelingt Kambundji offensichtlich und das Jahr für Jahr. Auf den ersten Blick klingt auch das langweilig: Aber die Tatsache, dass sie seit Jahren in der Weltspitze dabei ist und konstant vorne mitsprintet, ist wahrscheinlich ihre grösste Leistung. Mit ihrem langjährigen Vertrauten Adrian Rothenbühler, Sprint-Natitrainer Patrick Saile und Clivaz hat sie sich in der Schweiz ein Coaching-Team zusammengestellt, das voll auf ihre Bedürfnisse eingestellt ist.
Die Ziele
Sportlich ist der Fall klar: «Schneller werden, noch mehr Medaillen holen.» Und daneben? «Ein besseres Ich werden.» Das Streben nach Verbesserung hört bei der Bernerin nicht am Rand der Tartanbahn auf. «Ich ticke so.» Apropos ticken, einer der Bereiche, in dem sich Kambundji verbessern will: «Pünktlicher werden. Das war früher schlimm, mittlerweile ist es schon etwas besser.»