Der König von Schweden wusste, wen er da vor sich hatte. «Sie, Sir, sind der grossartigste Sportler der Welt», sagte Gustav V. bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm bei der Siegerehrung zum Amerikaner Jim Thorpe. Der hatte sich soeben zum ersten Zehnkampf-Olympiasieger der Geschichte gemacht und damit zum König der Leichtathletik, als die die Zehnkämpfer gemeinhin gelten. Denn wer Zehnkampf macht, der kann alles: sprinten, springen, werfen, stemmen.
110 Jahre später gibt es einen Schweizer, der sich aufmacht, in die Fussstapfen von Thorpe zu treten. Simon Ehammer, 22, Appenzeller, ist einer, der kein Problem damit hat, die Dinge beim Namen zu nennen. «Eine Olympiamedaille 2024 ist für mich das Ziel», sagt er, wenn man ihn fragt, worauf er denn hinarbeite. Er spricht die Worte ganz gelassen aus. Wahrscheinlich weil er weiss, dass er das alles wirklich irgendwo in sich drin hat.
Explosiv wie die Kambundjis
Und bisher sieht es ja auch gut aus: Auf 8377 Punkte schraubte er seine Bestleistung im Mai, das ist Schweizer Rekord. Davor gabs schon Hallen-WM-Silber im Siebenkampf, bei den Junioren hat er ohnehin längst angedeutet, was er kann und vor allem: Was da noch kommen könnte. Als sie vor ein paar Jahren in Magglingen Explosivitäts-Tests mit ihm machten, erreichte er Werte, die nur zwei andere schon geschafft hatten: Die Kambundji-Schwestern Mujinga und Ditaji.
An der WM diesen Sommer in den USA trat er nicht im Zehnkampf an, sondern im Weitsprung: Ehammer gewann gegen die Stars der Disziplin WM-Bronze, ein Wahnsinn. Ach ja: Im Weitsprung hält er weiterhin die Jahresweltbestleistung, seit er im Mai in Götzis (Ö) 8,45 m weit sprang. Keiner der Konkurrenten, die den lieben langen Tag nichts anderes tun, als Weitsprung zu trainieren, ist weiter geflogen als Zehnkämpfer Ehammer, der daneben noch neun weitere Disziplinen betreibt.
Nun aber folgt der nächste Härtetest. An der EM in München muss er zeigen, wo er im Kerngeschäft steht. Die Konkurrenz im EM-Zehnkampf ist brutal. Weltrekordhalter Kevin Mayer (Fra) und Niklas Kaul (De), der Weltmeister von 2019, werden als heisseste Kandidaten auf den Europameistertitel gehandelt. Dazu wird mit den Esten um Maicel Uibo zu rechnen sein. Und irgendwo da vorne will sich auch der Schweizer einreihen.
Das klassische Programm, das am Montag und Dienstag wartet: 100 m, Weitsprung, Kugelstossen, Hochsprung, 400 m am ersten Tag, an Tag 2 folgen 110 m Hürden, Diskus, Stabhochsprung, Speerwurf und zum Abschluss, wenn der Körper schon lange nicht mehr kann, der Lauf über 1500 m. Mörderisch.
Wer nicht topfit ist, hat keine Chance, das durchzustehen. Schon gar nicht auf Weltklasse-Niveau.
Die gute Nachricht: Ehammer ist parat. «Er ist in beneidenswerter Verfassung», sagt der St. Galler Sportmediziner Pierre Hofer, der mit dem Zehnkämpfer zusammenarbeitet. 1,83 m gross ist Ehammer, 83 Kilo schwer, Körperfettanteil zwischen 8 und 10 Prozent. «Es tut ihm im Moment nichts weh.»
Das ist eigentlich untypisch für einen Zehnkämpfer. Geht es um Ehammer, gerät der Mediziner ins Schwärmen. «Eine Sensation», sagt er über dessen Weitsprung-Heldentaten. «Eine absolute Sensation. Wenn man bedenkt, welch geringen Aufwand er im Vergleich mit anderen da reinstecken kann, ist klar, dass es noch viel, viel weiter gehen kann.»
Explosivität vs. Ausdauer
Hofer beschreibt die Herausforderung Zehnkampf so: «Die Leute sind sich gar nicht bewusst, was das bedeutet. Im 100er, im Weitsprung, im Hochsprung sind Schnellkraft und Explosivität gefragt. Und dann haben Sie eine Disziplin wie den 1500er, in dem Lockerheit zwingend ist. Das geht eigentlich nicht zusammen.»
Nicht ohne Grund habe sich der Langstreckenläufer Haile Gebresselassie vor seinem 10’000-m-Weltrekord stundenlang aufgewärmt. Das kann ein Zehnkämpfer natürlich nicht, mitten im Wettkampf. Aber einen Weg finden muss er. «Wenn Sie im 1500er nicht locker sind, übersäuert die Muskulatur, dann sind Sie nicht mehr schnell.»
Dass Ehammer so gesund ist, schreibt Hofer auch dessen Trainerteam um die Brüder René und Karl Wyler zu, die seit Jahren mit ihrem Schützling an der Sportlerschule Appenzellerland arbeiten, leise, bescheiden, aber bärenstark. Dabei gibt es für Zehnkämpfer genügend Körperpartien, wo es kritisch werden kann, die Füsse, Schienbeine, Patellasehnen, die Schultern. «Da wird viel richtig gemacht, gut dosiert gearbeitet.»
Hohe Ziele, aber nicht arrogant
Zurück nach München. «8500 Punkte», glaubt Ehammer, «sind an der EM möglich für mich.» Damit wäre er mehr als im Rennen um eine Medaille, ein neuer Schweizer Rekord wäre es noch dazu. Noch so eine entspannte Ankündigung, die der Appenzeller da von sich gibt. Er schafft es, hohe Ziele formulieren zu können, ohne arrogant zu klingen.
Vielleicht, weil die Gelassenheit nicht aufgesetzt ist. Bei einem Wettkampf in Amriswil vor zwei Jahren soll er sich der Legende nach mitten im Wettkampf eine Bratwurst geholt haben. «Stimmt, vor dem Kugelstossen», sagt er. «Und zwar ohne Senf, wie sich das bei uns in der Ostschweiz gehört.» Macht er das immer? «Nein, es gibt ja auch nicht überall auf der Welt einen Bratwurststand beim Zehnkampf. Aber ich hatte Hunger und vor dem Kugelstossen kann man schon etwas reinschaufeln», sagt er und grinst breit.
«Die Lockerheit macht ihn so stark»
«Das ist Simon!», sagt Michael Schiendorfer dazu trocken. Der Mann, der mit Ski-Star Marco Odermatt und den Spitzenschwingern Joel Wicki und Pirmin Reichmuth weitere Schweizer Top-Sportler managt, lenkt seit zwei Jahren die geschäftlichen Geschicke des Appenzellers. Er ermöglichte ihm auch, Profi zu werden. Als einer von wenigen Schweizer Leichtathleten lebt Ehammer nun seit einem Jahr vom Sport. «Diese Lockerheit macht ihn so stark», sagt Schiendorfer über die Bratwurst-Episode.
Wie gut Ehammer zwischen voller Konzentration und Entspannung hin- und herschalten kann, zeigt sich im Blick-Shooting am Mittwoch vor seinem EM-Start. Während zwei Stunden posiert er für den Fotografen, ahmt für die Bilder die zehn Disziplinen ohne Geräte nach. Wenn es ernst gilt, ist er voll da. Dazwischen hilft er beim Aufbau, plaudert und macht Spässe.
Vielleicht geht das auch nicht anders. «Den perfekten Zehnkämpfer gibt es nicht», sagt zum Beispiel Sportmediziner Hofer. Wer im Zehnkampf die Perfektion jagt, wird zwingend scheitern. So viel trainieren, dass er alle zehn Disziplinen optimal beherrscht, kann kein Mensch. Da kann ein bisschen Lockerheit nicht schaden. Womöglich hilft es auch, wenn man weiss, dass man ein sportliches Ausnahmetalent ist. «Als Fussballer war ich auch nicht so schlecht, als Basketballer hätte ich es wohl auch gekonnt», sagt Ehammer. «Und ein guter Skifahrer bin ich auch, würde ich sagen.»
Manchmal wird Ehammer mit einem anderen lockeren Simon verwechselt: Simon Ammann. Der Skispringer mag fast 20 Jahre älter sein, aber der Vergleich ist nicht ganz verkehrt. Wie sein Namensvetter ist auch Ehammer nicht auf den Mund gefallen. Und wie Vierfach-Olympiasieger Ammann hat Ehammer die Chance, eine Sportart ins Rampenlicht zu rücken, die dort sonst nicht so oft ist. «Mein Ziel ist es, den Zehnkampf in der Schweiz gross zu machen», sagt er. Auch deshalb will er nicht fix zu den Weitspringern wechseln, auch wenn dort gutes Geld zu verdienen wäre. «Ich will zeigen, was der Zehnkampf für eine tolle Sportart ist.» Dafür wird er Titel gewinnen müssen. Sprich: Geschichte schreiben.
Küsst er ein ganzes Land wach?
München könnte der richtige Ort dafür sein. Deutschland ist das Land der Zehnkämpfer, hier sind sie tatsächlich die Könige. Möglicherweise fallen dann dem einen oder anderen Schweizer Fan die legendären Zehnkampfduelle von Jürgen Hingsen (De) und Daley Thompson (Gb) wieder ein, die sich 1984 und 1988 bei den Olympischen Spielen bekämpften.
Und wer weiss, vielleicht küsst Ehammer ja gleich noch eine zweite Zehnkampf-Nation wach. Neben den Deutschen und Franzosen sind nun auch die Österreicher aufmerksam geworden. Ehammer, dessen Vater Tiroler ist, ist mit einer Österreicherin liiert, verbrachte schon als Kind seine Sommerferien über weite Strecken in Tirol. Im Münchner Olympiastadion wird die Ehammer-Delegation auf den Tribünen riesig sein. «Etwa 30 Leute» erwartet er. Aus dem Appenzell, aus Österreich, die Familie seiner Freundin hat sich ebenfalls angekündigt. Da kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen.