Lieber Herr Infantino, Sie werden den Namen Claudia Lederer noch nie gehört haben. Mir ging es genauso, bis ich mir am 6. März 2022 das Amateurspiel zwischen dem SV Günding und dem SV Waldeck Obermenzing anschaute. Kreisliga 1 Zugspitze des Bayerischen Fussball-Verbands.
90 Zuschauer waren damals dabei, als auf dem Sportplatz Günding, nordwestlich von München gelegen, die Rückrunde 2022 gestartet wurde. Wenige Tage zuvor hatte Putin die Ukraine überfallen. Kurz vor dem Anpfiff verkündete der Stadionsprecher, dass ab dem heutigen Spiel die vier Eckfahnen in den Ukraine-Farben gehalten werden. Hergestellt von Claudia Lederer. Als Zeichen gegen den Krieg und für den Frieden und die Solidarität.
Auch Sie, Herr Infantino, haben in den letzten Tagen ein Zeichen gesetzt. Leider ein negatives. Die «One Love»-Binde, ein Zeichen gegen Homophobie und für Toleranz und Liebe, haben Sie kurzerhand für verboten erklärt.
Zweimal wurde ein Zeichen gesetzt. Das eine steht für den wahren Fussball, das andere für die Ware Fussball.
Mehr Wir-Gefühl statt Ich-Gefühl
Herr Infantino, ich möchte Ihnen die Geschichte von Frau Lederer erzählen. Im Wissen, dass Sie diese zu 99,9 Prozent nicht lesen werden. Und wenn doch, dass diese Sie zu 99,99 Prozent nicht zum Nachdenken anregen wird.
Claudia Lederer ist 44 Jahre alt, verheiratet, arbeitet als Bürokauffrau und ist Fan des SV Günding. Ein Klub, der in der achthöchsten Liga Deutschlands spielt. Als in der Ukraine der Krieg ausbrach, dachte sie sich: Den Krieg selber können wir nicht verhindern, aber wir können die Kraft des Fussballs nutzen und ein Zeichen setzen.
Herr Infantino, Sie sind Ihrerseits 52 Jahre alt, verheiratet, arbeiten als Funktionär und sind Präsident der Fifa. Eine Organisation, die sich immer mehr ins Abseits spielt. Als an der WM in Katar sieben europäische Captains mit einer «One Love»-Binde auflaufen wollten, erklärte Ihr Verband: «Für Fifa-Finalwettbewerbe muss der Kapitän jeder Mannschaft eine von der Fifa gestellte Armbinde tragen.» Der Plan von Xhaka und Co. widerspreche daher dem Artikel 13.8.1 des Ausrüstungsreglements.
Runtergebrochen heisst das: Lederer folgte ihrem moralischen Kompass, während Sie es sich nicht mit den amoralischen WM-Gastgebern verscherzen wollten.
Zum Glück gibt es viele Claudia Lederers, die ihrem Gefühl folgen. Sie stehen für die Liebe zum Fussball und tragen etwas Positives zur Gesellschaft bei. Stichwort Integration, Geselligkeit, Wir-Gefühl.
Zum Glück gibt es wenige wie Sie, Herr Infantino. Sie stehen für die Habgier des Fussballs und tragen etwas zur Spaltung der Gesellschaft bei. Stichwort Frustration, Gefrässigkeit, Ich-Gefühl.
Weil Lederer eben ein Zeichen setzen wollte, zog sie Anfang März los. Auf der Suche nach dem richtigen Stoff für die Ukraine-Eckfahnen. Sie fand die richtigen Farben, bezahlte mit dem eigenen Geld, setzte sich zu Hause im Wohnzimmer an ihre Nähmaschine und legte los.
Bei besagtem Spiel gegen den SV Waldeck Obermenzing kamen dann die blau-gelben Eckfahnen das erste Mal zum Einsatz. Sie stehen bis heute ihren Mann!
Wir alle füttern das Fifa-Monster
Leider kommt jetzt der für uns unangenehme Teil dieses Briefes an Sie, Herr Infantino. Ob wir mehr Frau Lederer oder mehr Herr Infantino sind, liegt auch an uns selbst. Wir alle könnten mehr SV Günding sein und weniger FC Fifa. Wir alle haben die Wahl.
Aber was tun wir, Herr Infantino? Wir schauen uns trotz allem die WM an. Warum wir das machen? Weil wir eben auch den richtig grossen Fussball sehen möchten und nicht nur den SV Günding. Wer das will, muss sich, ob er will oder nicht, auf das Fifa-Monster einlassen. Im Wissen, dass wir damit das Monster füttern und sich so nichts verändern wird.
In diesem Zwiespalt stecken wir alle. Ich, Claudia Lederer und Millionen von Fussballfans weltweit. Nur Sie nicht, Herr Infantino. Sie sind längst immun gegen Kritik, sind der Realität entschwunden und umgeben sich lieber mit den Mächtigen dieser Welt als mit den Prächtigen dieser Welt.
Deshalb wird Sie die Geschichte von Claudia Lederer auch nicht berühren. Und deshalb muss Lederer auf die Frage, was sie Ihnen gerne noch sagen würde, auch lange überlegen. Dann sagt sie: «Wir sind leider zu klein, als dass wir Ihnen was sagen könnten.»
Claudia Lederer ist sprachlos. Ein trauriges Zeichen.