Seit Brasilien 1962 hat kein Land den WM-Titel verteidigen können. Mehr noch: Die Weltmeister von 2006 (Italien), 2010 (Spanien) und 2014 (Deutschland) scheiterten alle am nächsten Turnier in der Gruppenphase. Diese Hürde hat der Titelträger von 2018, Frankreich, in Katar locker übersprungen – und ist im Halbfinal gegen Sensationsteam Marokko haushoher Favorit.
Dafür, dass die Franzosen in der letzten Turnierwoche dabei sind, sprach noch im Herbst wenig. Paul Pogba wurde von seinem Bruder erpresst – Kylian Mbappé boykottierte aus Sponsorengründen das Teamfoto – um Verbandspräsident Noël Le Graët schwelte ein Sexismus-Eklat: Frankreich sorgte vielseitig, aber auf keinen Fall sportlich für Schlagzeilen. Und dann sagten für die WM neben Mittelfeldgenie Pogba auch noch Dauerläufer N'Golo Kanté und Weltfussballer Karim Benzema verletzt ab.
Debakel verhindert
Das nächste Debakel eines Titelverteidigers war aufgegleist. Dass es anders kam, daran hat Antoine Griezmann gewichtigen Anteil. Auf dem Papier brillieren zwar Superstar Kylian Mbappé (fünf Tore) und Sturm-Oldie Olivier Giroud (vier Tore), doch viele Experten bezeichnen den Atletico-Profi als wichtigsten Spieler Frankreichs.
Warum? Weil er von Trainer Didier Deschamps neu erfunden wurde und sich darauf einliess. Statt offensiver Freigeist mit regelmässigen Künstlerpausen ist aus Griezmann ein Teamplayer mit Fokus auf Defensivpflichten geworden: Im Viertelfinal gegen England hatte der 31-Jährige die meisten Tacklings aller Spieler. Im Achtelfinal gegen Polen spulte keiner mehr Kilometer ab als Griezmann. Im Gruppenspiel gegen Dänemark war er der Akteur mit den meisten gewonnenen Zweikämpfen und Balleroberungen.
Griezmann ist bester Vorlagengeber
«Ich verlange jetzt andere Dinge von ihm», so Deschamps, «aber offensiv aufgegeben haben wir ihn nicht.» Stimmt: Mit drei Assists ist «Defensivmonster» Griezmann gleichzeitig bester Vorlagengeber aller vier Halbfinalisten. «Wir brauchen eine gute Balance», sagt Griezmann selber, «ohne eine gute Defensive gewinnst du kein grosses Turnier.» Wie wichtig er für «Les Bleus» ist, zeigt auch diese Statistik: Seit August 2017 stand Griezmann in allen 72 (!) Länderspielen Frankreichs auf dem Platz.
So wie jener des Teams kommt auch Griezmanns Höhenflug unerwartet: Von Barcelona an Atletico ausgeliehen, durfte er bis Ende September nur Kurzeinsätze für die Madrilenen bestreiten, weil sonst eine teure Kaufoption für Griezmann fällig geworden wäre. Im Oktober dann die Einigung zwischen den Klubs, dass der Blondschopf im kommenden Sommer für «nur» 20 Millionen Euro fix zu Atletico wechselt. «Bis dahin», so Griezmann, «musste ich mich kleinmachen.» Seit dem Ende des Transferstreits blüht er auf – und lässt Frankreich von der WM-Titelverteidigung träumen.