Noch einmal musste sich Gianni Infantino in den Vordergrund drängen, als er im Beisein des katarischen Emirs bei der Siegerehrung Lionel Messi den schwarz-goldenen Bischt umhängte, bevor dieser den Pokal in die Höhe stemmen durfte.
Die Aktion rief in Erinnerung, dass über dem Turnier im Wüstenstaat ein dunkler Schatten lag. Dies wäre nach vier Wochen spektakulärem Fussball und dem denkwürdigen Final mit der Krönung von Messis Karriere beinahe in Vergessenheit geraten.
Die Liste der Kritikpunkte am WM-Gastgeber vor dem Turnier war lang. Missachtung der Menschenrechte. Tote Zwangsarbeiter. Fehlende Nachhaltigkeit. Es folgten die skurrile Eröffnungsrede Infantinos («heute fühle ich mich homosexuell, heute fühle ich mich behindert») und die Verbote des Alkoholkonsums rund um die Stadien sowie der One-Love-Binde.
Spannend und spektakulär
Im Lauf des Turniers verstummte die gesellschaftliche Kritik, der Sport rückte in den Vordergrund – zu Recht. Katar 2022 bot hochklassigen Fussball und spannende Partien. Einige überraschten (Marokko und Japan), andere enttäuschten (Belgien und Deutschland), wieder andere jubelten – am Ende nur noch die Kroaten und die Argentinier.
Die Kataris trugen ihren Teil zur gelungenen Veranstaltung bei. Die Organisation klappte, der befürchtete Verkehrskollaps blieb aus, Fans aus aller Welt feierten friedlich und ausgelassen. Die WM der kurzen Wege stand im Kontrast zu den Turnieren in Südafrika, Brasilien und Russland, wo Teams und Fans tausende von Flugkilometern zurücklegen mussten.
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Auch viele der mehr als zwei Millionen Gastarbeiter im kleinen Golf-Staat nahmen am bunten Treiben teil, zogen sich Ronaldo, Messi oder Neymar-Leibchen über und fieberten in Fan-Zonen vor Grossleinwänden mit. Ein paar wenige Glückliche fanden Einlass in die prächtigen Stadien. Ihr Stolz, Teil der neben Olympia grössten Sportveranstaltung der Welt zu sein, war spürbar.
Europa im Abseits
Katar feierte bei sommerlichen Temperaturen seine Winter-WM. Nur die europäischen Fans blieben der Party fern. Zwar verloren sich auch einige von ihnen in den Arenen, mit Ausnahme der Horden von Walisern, die es sich nicht nehmen liessen, die erste WM-Teilnahme ihres Landes seit 1958 vor Ort zu verfolgen (und in Hotel-Bars zu begiessen), waren die Vorbehalte Westeuropas wie bereits vor vier Jahren gegenüber dem Gastgeber gross.
Ganz anders die Lateinamerikaner. Mexikaner, Brasilianer, Uruguayer. Sie sangen und tanzten, auch ohne übermässigen Alkoholkonsum. Die Argentinier strömten trotz Wirtschaftskrise in Massen nach Katar und wurden mit dem dritten WM-Titel belohnt. Aus Saudi-Arabien fuhren sie zu Tausenden über die Grenze und unterstützen ihr Team mit ohrenbetäubenden Klatsch-Einlagen. Der afrikanische Kontinent solidarisierte sich mit Marokko, dem ersten afrikanischen WM-Halbfinalisten.
Der Fifa-Präsident verteidigte die Wüsten-WM mit Haut und Haar, verlegte im Vorfeld des Turniers seinen Wohnort an den Persischen Golf. Schon Wochen vor der WM kündigte Infantino an, dass Katar die beste WM aller Zeiten werden würde. Doch war sie das wirklich? Sportlich und atmosphärisch war sie ein Gewinn. Zu denken, dass ein WM-Turnier die katarische Gesellschaft verändern kann, würde den Sport und seine Wirkung aber einmal mehr überfordern.