Der Kontrast könnte kaum grösser sein: Fussballerisch ist Argentinien mit dem WM-Triumph im Olymp angekommen, wirtschaftlich hingegen ist das Land in desaströser Verfassung. Mehr als 40 Prozent der Argentinierinnen und Argentinier leben unter der Armutsgrenze, die Inflation kratzt an der 100-Prozent-Marke und die Renten schmelzen dahin. Die Bevölkerung ist tief gespalten.
Nach dem Finalsieg am Sonntag ist davon aber für einen Augenblick nichts mehr zu spüren: Auf der Avenida 9 de Julio, der 160 Meter breiten Hauptverkehrsachse in Buenos Aires, verdeckt das Menschenmeer jeden Quadratzentimeter Asphalt. Im ganzen Land feiern Millionen den WM-Sieg in den Strassen.
Geld drucken für Schuldenfinanzierung
Laut Maria Silvia Abalo (70) erlebt ihre Heimat einen historischen Moment. «Das Turnier hat gezeigt, was man mit grossem Einsatz und Zusammenarbeit erreichen kann», sagt die Direktorin der Handelskammer Schweiz-Argentinien in Buenos Aires. Sie hofft, dass diese Mentalität auf die ganze Bevölkerung abfärbt und ein Ruck durch Land und Wirtschaft geht.
Denn die wirtschaftliche Misere ist hausgemacht, ist Abalo überzeugt: «Die Politik hat in einigen Sektoren über Jahrzehnte unzureichende Anreize gesetzt.» In Argentinien ist es Usus, dass Angebote wie der öffentliche Verkehr oder Spitäler praktisch vollständig subventioniert werden. Zur Finanzierung neuer Staatsschulden wirft die Regierung die Druckerpresse in der Zentralbank an und treibt so die Inflation durch die Decke.
«Das zweite, entscheidende Problem ist die erhebliche Auslandsverschuldung», sagt Abalo. In einigen Provinzen arbeiten zudem viel zu viele Menschen in der Verwaltung – auf Kosten des Staats. Das führt zu einer verhältnismässig tiefen Arbeitslosigkeit von 6,9 Prozent. Die Klientelpolitik vergrössert aber gleichzeitig das Loch in der Staatskasse. Noch Mitte des letzten Jahrhunderts war Argentinien eine reiche Nation. Gesegnet mit natürlichen Ressourcen wie Silber, Kupfer oder Lithium sowie Agrarflächen. Ein Bereich, in dem nach wie vor viel Potenzial schlummert.
Anreiz zum schnellen Geldausgeben
Der WM-Titel dürfte das Land nun tatsächlich beflügeln. Studien zeigen, dass die Wirtschaft der Weltmeister-Nation während zwei Quartalen um jeweils 0,25 Prozent wächst. Die zusätzliche Aufmerksamkeit treibt die Exporte nach oben. Doch der Effekt verpufft nach einem halben Jahr bereits wieder.
Argentinien benötigt tiefgreifende, langfristige Reformen, sagt Abalo: «Die Regierung kann die Inflation nur mit einem ausgeglichenen Budget in den Griff kriegen.» Dann könnte das Land auch wieder vermehrt frisches Geld für Investitionen anlocken. Dafür müssten vor allem die Subventionen gekürzt werden.
Die aktuelle Inflation macht Sparen auch für die Mittel- und Oberschicht schwierig. Wer kann, tauscht seine argentinischen Pesos in Dollar. Doch der Staat beschränkt den Währungstausch, damit die Devisenreserven geschont werden. Das abstruse Ergebnis: Die Mittelschicht gibt ihre Pesos so rasch wie möglich aus. Isst oft in Restaurants, kauft Elektronikgeräte, ein Auto oder reist an die WM. Das erklärt, warum so viele Argentinier ihr Team vor Ort in Katar angefeuert haben.